Kiews militärischer Bankrott
Ralf Rudolph/Uwe Markus Berlin, 18. Oktober 2014
Die Waffenruhe in der Ostukraine ist trotz des vereinbarten Rückzugs schwerer Waffen aus der unmittelbaren Kampfzone immer noch brüchig. Infanteristische Scharmützel und vereinzelte Artillerieschläge sind nach wie vor an der Tagesordnung. Und die Auffassungen der Konfliktparteien über die staatliche Perspektive der Ostukraine liegen immer noch weit auseinander. Jederzeit ist eine erneute Eskalation des Konfliktes möglich. Beide Seiten versuchen Fakten zu schaffen: Die Rebellen durch die Abhaltung vorgezogener Wahlen in ihrem Machtbereich, die Kiewer Regierung durch Aufrüstung und Umgruppierung der Armee sowie durch die langfristige politische Weichenstellung in Richtung NATO-Beitritt.
Doch die geopolitische Lage, in welche der Ukrainekonflikt eingebettet ist, ändert sich gerade. Im Verhältnis der USA und der EU zu Russland deutet sich eine von vorsichtigem Pragmatismus getragene Veränderung an, die einer Entspannung in der Ukraine förderlich sein könnte. Denn die Vereinigten Staaten können ohne Russlands Unterstützung im UN-Sicherheitsrat ihre Kampagne zur Zurückdrängung des IS in Syrien und im Irak nicht völkerrechtlich legitimieren. Vor dem Hintergrund des offenkundigen Scheiterns amerikanischer Nahostpolitik der letzten Jahre hätte man für die Begrenzung der sicherheitspolitischen Folgen dieses Desasters gerne Russland in die Anti-IS-Koalition eingebunden. Die Forcierung der Konfrontation zwischen beiden Mächten in der Ukraine ist daher aus US-Sicht mittlerweile kontraproduktiv. Die ukrainische Interimsregierung wird sich darauf einstellen müssen, zumal der Westen mangels militärischer Potenz nicht in der Lage ist, auf zwei Kriegsschauplätzen gleichzeitig zu agieren. Man braucht Ruhe in der Ukraine, um sich auf den Nahen Osten konzentrieren zu können. Dass die Neigung des Westens zu direkter militärischer Unterstützung der Kiewer Regierung äußerst gering ausgeprägt ist, musste der ukrainische Präsident sowohl beim NATO-Gipfel in Wales, als auch während seines Besuches in den USA zur Kenntnis nehmen.
So bietet sich die Chance, dass ein erneuter massiver Ausbruch des Bürgerkrieges verhindert wird und auf der Grundlage des derzeitigen Status Quo nach einer tragfähigen politischen Lösung des Konfliktes gesucht wird. Die Ukraine wird es am Ende dieses Prozesses in der bisherigen territorialen Form mit hoher Wahrschein-lichkeit nicht mehr geben. Zu groß sind die Opferzahlen und zu umfangreich die Zerstörungen in der Ostukraine, zu brutal war die Kampfführung seitens der ukrainischen Armee, als dass eine Versöhnung und das Zusammenleben in einem Staat auf absehbare Zeit denkbar wären.
So wurden nach Angaben der UNO seit Beginn der Kampfhandlungen im Osten der Ukraine 3500 Zivilisten getötet und 8500 verletzt. 11325 Objekte wurden beschädigt oder zerstört, darunter 4500 Wohnungen. Und die ukrainische Armee setzte ihre schweren Waffen zu etwa 90 Prozent gegen zivile Ziele ein. 42 Prozent der Industrieanlagen und ca. 50 Prozent der Infrastruktur wurden zerstört oder beschädigt.
Angesichts der derzeitigen militärischen Lage und der psychologischen Folgen des Bürgerkrieges vor allem für die Bevölkerung der Ostukraine scheint nur eine – wie auch immer rechtlich ausgestaltete – Eigenstaatlichkeit der Region um Donezk und Lugansk eine realistische Option zu sein, die dauerhaft zu einer Entkrampfung der Situation führen könnte.
Zwar möchte Kiew sich das noch nicht eingestehen und sicherlich wäre ein solches Eingeständnis etwa für Präsident Poroschenko innenpolitisch problematisch, doch ist die Ukraine trotz aller derzeitigen militärischen Maßnahmen kaum in der Lage, eine andere Lösung durchzusetzen. Eine realistische Analyse des bisherigen Agierens der regulären und irregulären ukrainischen Streitkräfte schließt einen erneuten kurz-fristigen Waffengang zur Rückgängigmachung der Abspaltung aus.
Für die Ukraine als Staat und die durch einen faktischen Staatsstreich an die Macht gelangte Kiewer Führung fällt die bisherige militärpolitische Bilanz verheerend aus.
Die seinerzeit mit großem propagandistischem Getöse begonnene „Anti-Terror-Operation“ der Kiewer Regierung muss als völliger Fehlschlag gewertet werden. Weder konnten die militärischen Ziele erreicht, noch die politischen Ursachen des Konflikts beseitigt werden. Der ukrainische Präsident Poroschenko, der bei Amts-antritt auf eine gewaltsame Niederschlagung der Rebellion setzte, musste zur Kenntnis nehmen, dass die Rebellenmilizen militärisch nicht zu schlagen sind. Und nicht nur die personelle Unterstützung aus Russland sowie die Kampfmoral der Aufständischen spielten dabei offenkundig eine Rolle, sondern auch die unprofessionelle Art, in der die ukrainische Militärführung agierte. Man war erkennbar nicht in der Lage, sich operativ-taktisch auf die Bedingungen eines asymmetrischen Krieges ohne durchgehende Frontlinien einzustellen. Die ukrainische Armee trat an, als gelte es eine reguläre Streitmacht mit ähnlicher Struktur und vergleichbaren Einsatzgrundsätzen zu bekämpfen. Das sollte sich schnell als Irrtum erweisen.
Die ukrainische Militärführung hatte in der Anfangsphase der Operation große Kräfte an verschiedenen Kampfabschnitten konzentriert und dort Angriffe gegen die Rebellen vorgetragen, die aber offenkundig ins Leere liefen. Die wenigen Orte, die von der ukrainische Armee unter Kontrolle genommen wurden, waren zumeist von den Aufständischen zuvor schon verlassen worden. Die flexibel agierenden Rebelleneinheiten wichen der offenen Feldschlacht aus und konzentrierten sich auf schnelle, begrenzte Angriffe auf die Flanken und die rückwärtigen Räume der Regierungstruppen. Erste Einschließungen ukrainischer Einheiten führten bei den zumeist unzureichend ausgebildeten und schlecht ausgerüsteten Soldaten zu massiven Demoralisierungseffekten. Hinzu kam auf ukrainischer Seite militärisch fachliches Versagen der Führung. Das Zusammenwirken zwischen den Truppenteilen und Verbänden von Armee und Nationalgarde wurde kaum organisiert. Und die sogenannten Freiwilligenbataillone machten sowieso, was sie wollten bzw. was die jeweiligen Geldgeber dieser Einheiten festlegten. Die ukrainische Militärführung scheiterte auch an der logistischen Sicherstellung der Kampfhandlungen. Mangelnde Zuführung von Verpflegung, Munition und Treibstoff und gravierende Defizite bei der medizinischen Versorgung Verwundeter führten bereits in der Frühphase der Operation zu Motivationsproblemen bei den Regierungstruppen, die sich ver-schärften, als der Druck durch die Rebellen zunahm.
Doch zunächst – bis etwa Ende August – wähnte sich die Kiewer Führung trotz aller bereits latenten Probleme beim Einsatz der Truppen auf der Zielgeraden für eine Niederschlagung der Revolte. Dieser Realitätsverlust der Politiker wurde durch immer neue militärische Erfolgsmeldungen gestützt. Dank der quantitativen Überlegenheit und der besseren Ausstattung mit schwerer Kampftechnik sowie durch eine Kampfführung, die zivile Opfer billigend in Kauf nahm, rückte die Streitmacht der Kiewer Bürgerkriegsregierung immer weiter auf die Zentren des Widerstandes vor.
Anfang August etwa versuchte die ukrainische Armee die Versorgungswege für die Bevölkerung von Donezk bei den Städten Schachtjorsk und Krasny Lutsch zu durchschneiden und somit die Verbindung zwischen beiden Republiken zu beseitigen. Die Höhe Saur-Mogila im Süden von Donezk musste von den Volksmilizen aufgegeben werden. Die militärische Vernichtung der Aufständischen schien nur noch eine Frage weniger Tage zu sein.
Doch die Rebellen konnten dem stärksten Schlag der ukrainischen Armee bei Schachtjorsk standhalten, den die Junta mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften in der ersten Augusthälfte führte. In dieser Situation zeigte sich der höhere Kampfwert der Rebelleneinheiten. Als ukrainische Soldaten der 25. Luftlandebrigade und Teile der Nationalgarde in Schachtjorsk eindrangen, hielten die wenigen Kämpfer der Volksmilizen bis zum Eintreffen von Verstärkung stand und verhinderten damit die Aufspaltung des Rebellengebietes. Der Durchbruch der ukrainischen Armee wurde verhindert und die Regierungstruppen hatten große Verluste an Menschen und Material.
Ein weiterer kritischer Moment entstand für die Rebellen, als aus Richtung Debalzewo ein Schlag gegen die Verbindungswege bei Krasny Lutsch geführt wurde. Die aus dem Südkessel ausgebrochene 24. mechanisierte Brigade der ukrainischen Armee versuchte hier erneut, die Kräfte der Rebellentruppen aufzuspalten und Donezk vom Hinterland abzuschneiden. Aber wieder wehrten zahlenmäßig unterlegene Rebellenmilizen den Angriff bis zum Eintreffen von Reserven ab.
Da der ukrainische Angriff im Nordosten von Donezk stecken geblieben war, ver-suchten die ukrainischen Verbände die Stadt Donezk vom Süden aus zu attackieren. Diese Operation wurde jedoch durch die ukrainische Militärführung auf ein primitives Anrennen gegen die Stadt Ilowaisk reduziert. Hier fehlte offenbar ein tragfähiges operatives Konzept. In der südlichen Angriffsrichtung sollte die Stadt Ilowaisk mit über 2000 Soldaten der Armee sowie den Freiwilligenbataillonen „Donbass“ und „Dnepr“ eingenommen werden. Der Angriff sollte zudem mit starker Panzerunterstützung vorgetragen werden. Doch die Realität sah erheblich anders aus: Nur insgesamt 400 Soldaten der Armee kamen zu Beginn der Angriffsoperation zum Einsatz und die Panzerfahrzeuge fehlten zunächst völlig. Erst nach mehreren Tagen ununterbrochener Kämpfe trafen weitere ukrainische Einheiten vor Ilowaisk ein. Und während die ukrainischen Einheiten in verlustreichen Kämpfen verschlissen wurden, gruppierten die Rebellen ihre Kräfte um. Aus Depots der Regierung, die im Rebellengebiet lagen, wurden unter anderem schwere Waffen zugeführt, die man seinerzeit bei der Verkleinerung der ukrainischen Armee eingelagert hatte. Diese Kampftechnik aus vormals sowjetischen Beständen wurde zur materiellen Basis für die Verbesserung der Angriffsfähigkeit der Volksmilizen. Die bis dahin offenkundige technische Unterlegenheit der Rebellen gegenüber der regulären ukrainischen Armee konnte so teilweise ausgeglichen werden.
Am 24. August traten die Einheiten der Donezker Volksrepublik zu einer umfassenden Gegenoffensive an. Gegnerische Kräfte wurden bei den Ortschaften Olenovka, Starobeschevo, Voikowskij, Kuteinikovo, Blagodatnoje, Alekseevskoje, Uspenka, Uljanowskoje, Stepanowka, Amwrosiewka und Stepano-Krinka eingeschlossen.
Doch die größte Schlappe musste der Gegner bei Ilowaisk hinnehmen. Unter hinhaltendem Widerstand waren die ukrainischen Kampfeinheiten in die Stadt gelassen worden. Man glaubte nun in Kiew, dass damit die wichtigsten Verkehrsverbindungen zwischen Donezk und dem südlichen Hinterland der Stadt gekappt werden könnten.
Während jedoch die ukrainischen Verbände Ilowaisk unter schweren Verlusten einzunehmen versuchten, erfolgte in ihrem Rücken der massierte Schlag einer mechanisierten Gruppe der Volksmilizen. Die ukrainische Aufklärung hatte die Truppenkonzentrationen im Rücken der eigenen Kräfte nicht bemerkt. Der Angriff der Volksmilizen kam daher für die ukrainischen Truppen völlig überraschend. Die Falle schnappte zu. Es kam zur Einschließung der größten militärischen Gruppierung, über welche die Kiewer Regierung im Süden von Donezk verfügte. Die Einkesselung umfasste mehr als 5000 Soldaten, etwa 180 Panzerfahrzeuge sowie bis zu 90 Geschütze, Granatwerfer und Systeme der reaktiven Artillerie.
In dem Kessel steckten Einheiten der 93. Mechanisierten Brigade und der 17. Luftlandebrigade der ukrainischen Armee sowie Einheiten der Bataillone „Asow“ „Donbass“, „Dnepr“, „Cherson“, „Switjas“ und „Mirotworez“ fest.
Nun zeigte sich die Desorganisation und Führungsschwäche der ukrainischen Bürgerkriegstruppe in aller Deutlichkeit. Das Bataillon „Asow” entzog sich faktisch der Befehlsgewalt vor Ort und flüchtete mit einem erheblichen Teil seiner Kräfte in Richtung Mariupol. Die Bataillone „Donbass″, „Dnepr“ und „Mirotworez“ verstrickten sich in Straßenkämpfe in Ilowaisk. Statt sich aus dem Kessel zu schlagen, forderten sie von der Armee Panzer und Artillerie, um den Sturm auf die Stadt fortzusetzen.
Angesichts des Angriffsdrucks der Rebellenverbände brach die Führung im Kessel endgültig zusammen. Zuerst ergaben sich massenweise die Kämpfer der Nationalgarde und der “Freiwilligenverbände”. Sie verließen teilweise in Bataillonsstärke ihre Positionen und versuchten aus der Kampfzone zu kommen. Einheiten der Territorialverteidigung, insbesondere aus den Städten Winniza und Iwano-Frankow (West-ukraine) flüchteten bereits, nachdem die ersten zwei oder drei Kämpfer aus den eigenen Reihen gefallen waren. Das sagt viel über den Kampfwert dieser Einheiten. Jedenfalls war die Lage der Eingeschlossenen aussichtslos.
Der russische Präsident Putin schlug in dieser Situation den ostukrainischen Rebellen vor, die eingekesselten ukrainischen Kräfte über „humanitäre Korridore“ fliehen zu lassen. Die Rebellen erklärten sich dazu bereit, es kam jedoch zu keiner offiziellen Einigung mit Kiew. Die Strategen in Kiew waren gegen diesen Korridor. Die Soldaten sollten weiterkämpfen. Der Kommandeur des Freiwilligenbataillons „Donbass“, Semjon Semjonitschenko, der sich selbst im Kessel befand, berichtete jedoch von einer separaten Abmachung zwischen Rebellen und Regierungstruppen zum Abzug der geschlagenen Einheiten aus dem Kessel. Die Soldaten könnten abziehen, wenn sie ihre Waffen zurückließen. Doch nicht nur die Armeeeinheiten wurden vernichtend geschlagen. Die durch Kopfprämien zu einer möglichst brutalen Kampfführung motivierten Söldner der diversen Freiwilligenbataillone scheiterten im offenen Gefecht mit einem gleichwertig ausgerüsteten Gegner völlig.
Von dem 400 Mann starken Bataillon „Mirotworez“, bestehend aus aktiven und pensionierten Polizisten, konnte sich nur ein Drittel durch Flucht retten. Vor allem die Kommandeure dieser Truppe setzten sich ab. Zwei Drittel der Einheit gerieten in Gefangenschaft. Von 340 Kämpfern des Bataillons „Donbass“ verblieben bei dem Versuch, die Stadt Ilowaisk einzunehmen und zu verteidigen nur 20 Mann, die sich den Volksmilizen ergaben. Der Kommandeur des Bataillons, Semjon Semjonitschenko, wurde bei den Kämpfen verwundet. Sein Stellvertreter und einige weitere Kommandeure flohen und ließen ihre Leute im Stich.
Die Einheit der ukrainischen Territorialverteidigung „Tscherkassy“ desertierte geschlossen. Die rund 400 Soldaten erklärten in Rapportschreiben, dass sie die Stellung von Ilowaisk ohne Erlaubnis verlassen und den Befehl des Kommandierenden verweigert hätten. Als Grund gaben sie ihre unzureichende Bewaffnung und Ausrüstung für den Fall weiterer Angriffe des Gegners an.
Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministers Valeri Geletey sind 107 Soldaten der ukrainischen Armee bei den Kämpfen um Ilowaisk und im Kessel umgekommen. Unter Berücksichtigung der Toten in den Freiwilligenbataillonen steigt die Zahl auf ca. 200. Nach Zerschlagung des Kessels durch die Volksmilizen am 14. September wurden weitere 24 tote ukrainische Soldaten von einem Suchtrupp der Organisation „Volksgedenken“ gefunden. Die Schlacht um Ilowaisk war die Wende im Bürgerkrieg und die bisher größte Niederlage der ukrainischen Verbände.
Söldner nationalistischer Bataillone äußerten nach dem Ende der Kesselschlacht gegenüber Journalisten den Verdacht, dass die ukrainische Armee sie als „Kanonenfutter“ benutzt und sie ihrem Schicksal überlassen habe. Sie seien von der ukrainischen Armee in Stich gelassen worden, weil man die Freiwilligenbataillone habe ausschalten wollen. Während der über eine Woche dauernden Kämpfe um Ilowaisk hätten diese Einheiten keine Verpflegung, kein Wasser und auch keinen Nachschub an Munition bekommen. Nach Aussagen des Bataillonsarztes der Einheit „Donbass“, Igor Kanakow, kamen auf 300 Kämpfer nur 40 Ampullen Antischock-Präparate. Die Koordinierung der Informationen und der Handlungen zwischen den Bataillonen und der Armee fehlte völlig. Der Kommandeur des Bataillons „Donbass“, Semjon Semjonitschenko, machte auf seiner „Facebook-Seite“ die ukrainischen Politiker für den „Verkauf“ seiner Leute und die Armee für die „Unprofessionalität“ beim Sturm auf die Stadt Ilowaisk verantwortlich.
Die Vermutung, dass man die Freiwilligenbataillone bei Ilowaisk „verheizen“ wollte, hat einen durchaus plausiblen Hintergrund: Die meisten der Freiwilligenbataillone werden von dem Oligarchen Kolomojski bezahlt. Der ukrainische Präsident Poroschenko, ebenfalls einer der reichsten Industriemagnaten, hat ein Interesse daran, die Paramilitärs seines schärfsten Konkurrenten möglichst zu neutralisieren. Dass Poroschenko und Kolomojski u.a. um Odessa und andere Filetstücke der Ukraine einen verdeckten Krieg führen, ist kein Geheimnis.
Außerdem erweisen sich die nationalistischen Freiwilligenverbände zunehmend als imageschädigend für die ukrainische Führung. Die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ hat mittlerweile Dutzende Beweise für Kriegsverbrechen etwa des Bataillons „Aidar“ („Rechter Sektor“) gesammelt. Entführungen, Freiheitsberaubungen, Misshandlungen, Raubüberfälle, Erpressung und Hinrichtungen werden der Truppe angelastet. Die am 23. September in der Bergarbeitersiedlung Kommunar bei dem Dorf Nischnaja Krynka (60 km von Donezk) gefundenen Massengräber illustrieren die völkerrechtswidrige Art der Kriegführung, wie sie durch die Bürgerkriegstruppe praktiziert wurde. Bisher wurden in mehreren Massengräbern von Vertretern der Donezker Volksrepublik im Beisein von OSZE-Beobachtern 400 Tote, darunter auch Zivilisten, aufgefunden. Man hatte sie mit auf den Rücken gefesselten Händen durch Kopfschuss getötet. Bis zum 21. September befanden sich Soldaten der 25. Luftsturmbrigade der ukrainischen Armee und Söldner des Bataillons „Aidar“ in dem Dorf. Sie brachten offenbar Gefangene und missliebige Zivilisten um. Diese Taten sind Kriegsverbrechen.
Eine Gruppe internationaler Experten der OSZE unter Leitung des lettischen Völkerrechtlers Einars Graudius begann inzwischen vor Ort mit der Untersuchung der Morde und weiterer Verbrechen. Frauen des Dorfes berichteten den OSZE-Vertretern u.a. von Gruppenvergewaltigungen selbst 12- und 13-jähriger Mädchen. Doch die Aufklärung dieser Vorfälle wird wohl durch die Ukraine ähnlich verschleppt und behindert werden wie schon bei den Scharfschützenattacken auf dem Maidan, den Massakern in Odessa und Mariupol oder beim Abschuss der malaysischen Passagiermaschine.
In der Obersten Rada in Kiew wurde durch die Swoboda-Partei mittlerweile vorsorglich ein Gesetzentwurf eingebracht, der beinhaltet, dass alle im Zuge der „Anti-Terror-Operation“ von Söldnern und Soldaten verübten Vergehen und Verbrechen amnestiert werden. Ungeachtet solcher entlarvender Signale behauptet der ukrainische Präsident unverdrossen, man kämpfe in der Ostukraine für westliche Werte. Diese Propagandaparole lässt sich natürlich nur einigermaßen glaubhaft verkünden, wenn man sich die nationalistischen Schmuddelkinder, deren man eben noch als Bürgerkriegstruppe bedurfte, vom Halse schafft.
Das sind die Gründe, warum Poroschenko in der Endphase der Kämpfe eine ständige Personalrotation an der Front der sogenannten “Anti-Terror-Operation” angewiesen hatte, in deren Verlauf vor allem reguläre Einheiten aus dem Feuer genommen und stattdessen die diversen Freiwilligenbataillone und Sonderkommandos eingesetzt wurden. Das mögen auch die Gründe für seine Ablehnung der Nutzung des von den Rebellen angebotenen Korridors aus dem Kessel von Ilowaisk gewesen sein.
Umfassende Angriffsoperationen der Volksmilizen mit dem Ziel weiterer Geländegewinne sind in der nächsten Zeit nicht zu erwarten. Gründe dafür sind die Länge der Kommunikationslinien und die Anstrengungen zur Auflösung der noch existierenden Kessel. Alles deutet darauf hin, dass die Kräfte der Junta die separate Abmachung der Kommandeure vor Ort mit den Rebellen akzeptiert haben und jetzt in Eile aus den Kesseln die Verwundeten und Toten evakuieren. Im Gegenzug verbleibt die Bewaffnung der ukrainischen Armee und der Nationalgarde vor Ort, was die Kampfkraft der Rebellen weiter erhöhen dürfte.
Die permanente politische Unaufrichtigkeit der Kiewer Führung kommt insbesondere bei der Abwicklung des in Minsk vereinbarten Gefangenenaustausches zum Ausdruck. Die Vertreter der Rebellen aus Lugansk und Donezk forderten vor dem Austausch „Mann gegen Mann“ eine Übergabe von namentlichen Gefangenenlisten, was die ukrainischen Sicherheitsbehörden ständig verweigerten. Der Grund für die Forderung nach Listen ist simpel: Bei bisherigen Austauschaktionen wurden von den ukrainischen Behörden unbekannte Personen als angebliche Kämpfer der Volksmilizen übergeben. Teilweise deklarierte man kriminelle Gefängnisinsassen als Kombattanten, durch deren Überlassung man gefangene Soldaten auslösen wollte.
Nachdem man sich schließlich doch auf den Austausch von Listen geeinigt hatte, wurden am 29. September 2014 beim Austausch von 60 Gefangenen von der ukrainischen Seite 45 Zivilisten übergeben, die nicht auf der Liste vermerkt waren und die mit den Volksmilizen nichts zu tun hatten. Diese Personen waren – wie sich dann herausstellte – auf Kundgebungen gegen die Interimsregierung in Städten der Ukraine oder sogar wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet worden.
Solche Betrugsversuche fördern natürlich beim Verhandlungspartner das ohnehin schon tief verwurzelte Misstrauen gegenüber den ukrainischen Entscheidungsträgern, was regelmäßig zur Unterbrechung des Gefangenenaustausches führt.
Zur militärischen Niederlage gesellt sich der moralische Verfall des Kiewer Regimes. So weigert sich die Kriegsregierung, die Bestattung der in der Ostukraine gefallenen Kämpfer der verschiedenen Freiwilligenbataillone zu bezahlen. Die Angehörigen sollen selbst dafür aufkommen.
Entsprechend den Minsker Vereinbarungen hat die Arbeitsgruppe des „Zentrums für Kontrolle und Koordinierung der Feuereinstellung der OSZE“ am 26. September 2014 ihre Arbeit aufgenommen. Der Gruppe gehören Vertreter der ukrainischen Seite, Mitarbeiter der OSZE und 76 Militärs der russischen Armee an. Es wurde mit der Markierung einer 30-Kilometer breiten Zone zwischen den Konfliktparteien begonnen. Wichtigstes Ergebnis der Beratungen ist der beabsichtigte Abzug schwerer Technik aus der Kampfzone. Die 30-Kilometer-Zone wurde in fünf Sektoren eingeteilt. In jedem dieser Sektoren werden drei bis fünf motorisierte OSZE-Kontrollgruppen zur Überwachung der Waffenruhe unterwegs sein.
Derweil geht jedoch der Krieg trotz Waffenruhe unterhalb der Ebene großer militärischer Operationen weiter. Unmittelbar nach Vereinbarung der Waffenruhe waren weitere ukrainische Einheiten faktisch ohne Blutvergießen durch die Volksmilizen eingeschlossen worden. Im Norden, im Gebiet Debalzewo und Shdanowka, hatte die ukrainische Armee damit begonnen, ihre Truppen umzugruppieren. Ein Teil war als Angriffsformation in den Raum südwestlich von Donezk verlegt und ein weiterer Teil nordöstlich von Lugansk stationiert worden. Die noch verfügbaren Kräfte waren direkt an den sehr lückenhaften Frontlinien disloziert worden, was den Angriffscharakter zukünftiger Operationen unterstreicht. Doch hier zeigte sich erneut das Wunschdenken der politischen Führung, das offenbar voll auf die militärische Planung durchschlug: So waren zwar die Angriffsgruppierungen gebildet worden und der ukrainische Ministerpräsident erklärte aufgeregt, dass man nun eine durchge-hende Frontlinie schaffen wolle, doch im Hinterland gab es keine mobilen Reserven mehr. Und bei der Umgruppierung der ukrainischen Kräfte wurden die Fehler von Ilowaisk wiederholt. Die als Basis für zukünftige Angriffsoperationen gewählte Dislozierung exponierte die ukrainischen Einheiten derart, dass ihre Einschließung erleichtert wurde. Die militärische Führung der Volksmilizen erkannte diesen gravierenden Fehler des Gegners. Die Kommunikationslinien der ukrainischen Gruppierungen z.B. bei Debalzewo wurden gekappt. Die ukrainischen Einheiten wurden ohne große Gefechte in die operative Umzingelung genommen, damit vom Nachschub abgeschnitten und es wurde ihnen die Manövrierfreiheit genommen. Auch wurden durch die Rebellenverbände einige Nachschublager der ukrainischen Armee in diesem Gebiet zerstört, was die Angriffsfähigkeit der eingeschlossenen Gruppierungen weiter reduzierte.
So steckten Mitte September ca. 5000 ukrainische Soldaten und Kämpfer von Freiwilligenbataillonen im Kessel von Debalzewo und ca. 2500 Mann im Kessel von Shdanowka. Hinzu kam noch der Flugplatz von Donezk, wo mindestens 1000 ukrainische Soldaten eingeschlossen waren. Von den insgesamt 55 000 Mann, die Kiew für den Bürgerkrieg im Osten aufgeboten hatte, kämpften ca. 25 000 in den vordersten Linien. Damit saßen in den neuen Kesseln etwa 30 Prozent der ukrainischen Kampftruppen mit Feindkontakt fest. Doch nicht nur hierin offenbart sich das operative Unvermögen der ukrainischen Militärführung. So wäre etwa die Einnahme von Mariupol durch die Rebellen Anfang September kaum zu verhindern gewesen. Also nutzte Kiew die Waffenruhe, um diesen Frontabschnitt zu stabilisieren. Alles, was an Truppen noch verfügbar war, wurde nach Mariupol verlegt. Und aus diesem Grund trat auch der ukrainische Präsident dort auf und schwang martialische Reden über den Schulterschluss seines Landes mit der NATO.
Die Rebelleneinheiten konzentrierten sich ab Mitte September auf die Zerschlagung des Kessels beim Flughafen von Donezk, von wo aus die Stadt immer wieder durch die ukrainische Armee beschossen wird. So gibt es aktuell weiterhin Artillerieschläge der am Flughafen von Donezk eingeschlossenen ukrainischen Einheiten gegen Wohnviertel und Betriebe in Donezk. Bei einem dieser Feuerüberfälle mit Mehrfachraketenwerfern „Uragan“ wurde am 1. Oktober 2014 eine Bushaltestelle getroffen. Neun Zivilisten wurden dabei getötet und 18 verletzt. Eine weitere Rakete schlug in eine Schule ein, wo zwei Menschen starben.
Der Flughafen von Donezk soll durch die ukrainischen Truppen gehalten werden, weil er nahe am Machtzentrum der Region liegt und Kräfte der Rebellen bindet. Die dortigen ukrainischen Einheiten konnten nach einem Durchbruch des Einschließungsrings von außen zunächst verstärkt werden. Sie nutzen für ihre Verteidigung unter anderem einen Atomschutzbunker aus Sowjetzeiten, was es den Rebellen schwer macht, diesen Kessel zu zerschlagen. Nach letzten Meldungen hat allerdings die Endphase des Kampfes um den Flughafen begonnen. Die Rebellen bekämpfen die letzten ukrainischen Kräfte, die sich entlang der Start- und Landebahnen verteidigen.
Außerdem wollten die Rebellen den Zusammenschluss der in Shdanowka eingeschlossenen Gegner mit den Kräften im Kessel von Debalzewo verhindern. Das gelang ihnen jedoch nicht. Der Kessel von Shdanowka wurde von der ukrainischen Armee mittlerweile aufgegeben. Die Truppen zogen sich in den Kessel von Debal-zewo zurück. Die ukrainische Armee ist bestrebt, diesen Kessel zu halten, weil damit das Autobahnkreuz zwischen Donezk und Lugansk (West-Ost) und zwischen Charkow und Rostow am Don (Nord-Süd) in ihrer Hand ist.
Im Gebiet Awdejewka, im Norden von Donezk, wurden bis 22. September ca. 8000 Soldaten und südlich von Donezk, im Gebiet Kurachowo, ca. 6000 Mann mit einem großen Bestand an Artillerie, Raketenwerfern und 180 gepanzerten Fahrzeugen zusammengezogen. Man spielt in Kiew wohl immer noch mit dem Gedanken eines Sturmangriffs auf Donezk. Und die Gegenseite richtet sich darauf ein.
Im Grunde geht es aktuell um die Sicherung und den Ausbau von Positionen als Faustpfand für die Festlegung zukünftiger Grenzen zwischen der Restukraine und Novarossija. Die derzeitigen und zukünftigen militärischen Auseinandersetzungen haben diesen unmittelbaren politischen Zweck – militärische Siege im klassischen Sinne jedoch sind beiden Seiten nicht möglich: Die Rebellen können nur regional operieren und bestenfalls ihr Einflussgebiet konsolidieren, die ukrainische Regierung kann die Rebellen militärisch nicht besiegen und wird die Rebellenregion trotz allen propagandistischen Spektakels abschreiben müssen.
Nach verschiedenen Einschätzungen hat die Kiewer Junta in den bisherigen Kämpfen 60-70 Prozent der Panzer und anderer schwerer Technik verloren. Darunter sind mehr als 220 Panzerfahrzeuge verschiedener Art, die von den Volksmilizen erobert und sofort wieder eingesetzt wurden. Die Mobilmachung in der Westukraine konnte die großen Verluste an Toten und Verwundeten nicht kompensieren. Kiew ist militärisch in einer Sackgasse: Die Kräfte sind erschöpft, die Zuführung neuer Kampftechnik braucht Zeit und kostet Geld, das man nicht hat.
Weil das Land finanziell am Tropf des Westens hängt, würden Waffenkäufe wohl mit westlichen Krediten bezahlt werden müssen. Es ist zu bezweifeln, dass eine solche Zweckentfremdung der Finanzhilfen von EU und IWF für die Fortführung des Bürgerkrieges politisch vermittelbar wäre, während gleichzeitig Europa wegen der Sanktionen gegen Russland und der russischen Gegenmaßnahmen in eine Rezession rutscht und unter Umständen bei einer weiteren Eskalation des Konflikts ein kalter Winter ohne russische Energielieferungen bevorstehen könnte. Das will im Westen niemand – vor allem die europäischen Großunternehmen wollen zur gewinnträchtigen Normalität der Zusammenarbeit mit Russland zurückkehren.
Die Zeit ist schnelllebig und mittlerweile steht nicht mehr der geopolitische Testfall Ukraine an der Spitze der amerikanischen und westeuropäischen Agenda, sondern die Lage im Nahen Osten. Außerdem dürfte man in den Führungszirkeln von EU und NATO mittlerweile verstanden haben, dass die mitunter hysterischen Auftritte ukrainischer Politiker dem klaren politische Kalkül folgen, den Westen für die Durchsetzung der eigenen Zielvorstellungen zu instrumentalisieren. Bisher bekunden westliche Entscheidungsträger noch ihre Solidarität mit jedweder Forderung Kiews, doch hinter den Kulissen ist man eher genervt von den schrillen Tönen aus der ukrainischen Hauptstadt und den vielen durchsichtigen Manipulationsversuchen der Interimsregierung.
Und so rüstet man im Westen politisch und medial langsam ab – immer in der Hoffnung, das Gesicht nicht zu verlieren. So kommt etwa die ARD in Gestalt ihres Chefredakteurs Kai Gniffke (ARD-aktuell) zu der Einschätzung, dass die bisherige Berichterstattung über den Bürgerkrieg in der Ukraine einseitig war. Am 1. Oktober erklärte er in seinem Blog: „Heute hätten wir manchen Akzent anders gesetzt und manche Formulierung anders gewählt.......Vielleicht hätten wir rechte Gruppierungen in der Ukraine früher thematisieren sollen. Und weiter schreibt er: „Vielleicht haben wir die russischen Interessen zu wenig für den deutschen Zuschauer ‚übersetzt‘. Wir hätten evtl. die Nato-Position noch kritischer hinterfragen können.“ Das halbherzige Eingeständnis einer Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht und Objektivität kommt recht spät und kam erst durch Intervention des ARD-Programmbeirates – also durch politischen Druck zustande. Das Gremium hatte Mitte September moniert, dass die ausgestrahlten Inhalte „tendenziell gegen Russland und die russischen Positionen“ gerichtet gewesen seien. Das mag ein erster Indikator für ein vorsichtiges Umsteuern in der Ukrainepolitik sein.
von Internetredaktion (Kommentare: 0)