Mutti ist verärgert

Die gedankenpolizeiliche Überwachung hat Orwellsche Dimensionen. Der große Bruder ist überall dabei - ob beim privatem Flirt oder im Berufsleben. Ein scheinbar allmächtiger Geheimdienst streckt - einem Kraken gleich - seine Tentakel in alle sensiblen Bereiche der Gesellschaft. Politik, Medien, Wirtschaft, Polizei und Militär sind infiltriert. Es ist, als existiere ein Staat im Staate. Das alles ist durch die Gesetze des Landes nicht legitimiert. Die Demokratie ist zur Kulisse geworden, denn überall gibt es verdeckte Einflüsse auf die politische Entscheidungsfindung, die sich der öffentlichen Kontrolle entziehen.

Die Rede ist nicht vom "Unrechtsstaat DDR" und dem Ministerium für Staatssicherheit. Es ist die Bundesrepublik Deutschland, deren freiheitliche und demokratische Grundordnung durch die hemmungslos Überwachungsmanie und fortschreitende Paranoia der Geheimdienste sukzessive untergraben wird. Man ist mit Fortschreiten der NSA-Affäre vor allem über zwei Sachverhalte immer wieder erstaunt: Das ist einerseits die Unbekümmertheit, mit der britische und US-Dienste in Besatzermanier wie in einem Feindstaat agieren und zweitens die Willfährigkeit, mit der deutsche Nachrichtendienste und Politiker das bisher nicht nur hingenommen, sondern unterstützt haben.

Dass diese verdeckte Kumpanei amerikanischer, britischer und deutscher Spitzelorganisationen nun öffentlich wird, war so nie vorgesehen und führt bei den Verantwortlichen zu einer gewissen Ratlosigkeit. Nicht nur der überforderte deutsche Innenminister, sondern auch der forsch-flapsige Kanzleramtschef Pofalla stehen bestenfalls als Tölpel, schlimmstenfalls als Lügner da. Und auch die unverbrüchliche Freundschaft der Kanzlerin zu den Vereinigten Staaten wird durch die peinlichen Enthüllungen des leider für die US-Justiz unerreichbaren Nestbeschmutzers im fernen Moskau auf eine harte Probe gestellt.

Mutti ist verärgert. Wohl weniger, weil die großen Brüder und Schwestern der NSA an den politischen Kungeleien der Kanzlerin Anteil nehmen konnten, sondern vor allem, weil für jeden sichtbar wird, dass die amerikanischen Freunde der Kanzlerin sie nicht auf Augenhöhe wahrnehmen und das Land, welches sie repräsentiert, politisch eher als teilsouveränen Marionettenstaat und früheres Mandatsgebiet betrachten, dessen Gesetze man getrost ignorieren kann.

Was der politischen Elite der Bundesrepublik immer bewusst war, aber kommunikationspolitisch verschleiert wurde, ist nun nicht mehr zu leugnen. Darin besteht im Kern der Ärger für das US-hörige Führungspersonal dieser Republik. Denn nun  wird deutlich, wie wenig sich selbst sogenannte Konservative, aber auch von Staatsräson durchtränkte Sozialdemokraten um die Sicherung nationaler Interessen scheren, wenn sie mit amerikanischen Machtansprüchen kollidieren könnten.

Sozialisiert in der Zeit des Kalten Krieges, konnte man sich aus der bequemen Bevormundung durch die westliche Schutz- und Führungsmacht geistig und politisch nie wirklich befreien. Das rächt sich nun. Insofern ist die NSA-Affäre und der Umgang mit ihr eine Bankrotterklärung der etablierten Politik in Deutschland. Dabei böte diese Beziehungskrise eine Chance zur Überprüfung der Grundlagen für das deutsch-amerikanische Verhältnis. Statt weiter in Nibelungentreue gut zu heißen, was amerikanische Präsidenten für richtig halten, sollte Deutschland seine internationalen strategischen Zielvorstellungen auch abweichend von amerikanischen Wünschen selbstbewusst definieren.

Das eher wahltaktisch motivierte Nein des damaligen Kanzlers Schröder zu einer deutschen Beteiligung am Irakkrieg und die Ablehnung der NATO-Kampagne in Libyen oder einer westlichen Einmischung in Syrien durch die Merkel-Regierung können nur erst Schritte sein. Auf den Prüfstand gehört die Stationierung amerikanischer Kampftruppen in Deutschland.

Welche Funktion sollten sie nach dem Ende des Kalten Krieges noch haben? Warum weigert sich die US-Regierung, die noch auf deutschem Boden befindlichen US-Kernwaffen abzuziehen? Und widerspricht es nicht dem Grundgesetz, wenn die Bundesrepublik durch die Gewährung von Stützpunktrechten die US-Streikräfte bei der logistischen Vorbereitung von Angriffskriegen gegen souveräne Staaten unterstützt? Wird damit im Konfliktfall Deutschland nicht zum militärischem Zielgebiet? Müssten deutsche Politiker, die allein dem deutschen Volke verpflichtet sind, diese Gefährdungen und Einschränkungen staatlicher Souveränität nicht beseitigen wollen, wenn sie ihren Verfassungsauftrag ernst nehmen? Und welche tragfähige verfassungsrechtliche Grundlage gibt es für die massenhafte Übermittlung von Erkenntnissen deutscher Nachrichtendienste über deutsche Bürger an die sogenannten Partnerdienste in England und den USA? Das Argument der gemeinsamen Terrorabwehr wirkt als Begründung mittlerweile mangels Substanz reichlich überstrapaziert.

Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob die politische Elite dieses Landes den Willen und die Kraft aufbringt, das Land aus der Geiselhaft amerikanischer Politik zu befreien. Betrachtet man das zur Verfügung stehende Personal, sind allerdings Zweifel angebracht.

 

Friedrich Ritterfeld

von Internetredaktion

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