Zur Lage in Kasachstan

Das ist einfach überraschend: Unter den Bedingungen der katastrophalen Entwicklung der Lage in Kasachstan agieren Russland und seine engsten Verbündeten in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ungewöhnlich entschlossen, hart und schnell. Bei den Massenprotesten in Weißrussland im Sommer 2020 und im Frühjahr 2021 war das nicht der Fall. Im sogenannten zweiten Krieg um Berg-Karabach (im Herbst 2020) zwischen Armenien und Aserbaidschan haben wir nichts dergleichen gesehen. Auch von April bis Mai 2021, während der bewaffneten Zusammenstöße an der tadschikisch-kirgisischen Grenze war die OVKS nicht tätig. All dies lässt seit langem begründete Zweifel aufkommen: Wozu braucht Russland die OVKS, die sich nirgends einmischen will? Auch wenn auf den Straßen des Bündnisses Schüsse donnern und das Blut von Zivilisten vergossen wird?

Diesmal ist es genau umgekehrt. Am späten Abend des 5. Januar wandte sich Kasachstans Präsident Kassym-Zhomart Tokajev um Hilfe an die OVKS-Partner. Laut RIA Novosti erklärte er: „Im Vertrauen auf den Vertrag über kollektive Sicherheit habe ich mich heute an die Führer der OVKS-Staaten gewandt, um Kasachstan bei der Überwindung dieser terroristischen Bedrohung zu helfen.“ Und weiter: „Tatsächlich ist das keine Bedrohung mehr, es ist eine Untergrabung der Integrität des Staates und vor allem ein Angriff auf unsere Bürger, die mich als Staatsoberhaupt um dringende Hilfe bitten.“ Buchstäblich wenige Stunden später, in der Nacht vom 5. auf den 6. November, fand eine Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates der OVKS statt, deren Hauptthema die blutigen Pogrome in Almaty waren. Und schon im Morgengrauen waren militärische Transportflugzeuge mit russischen Luftlandetruppen am Himmel über Kasachstan, um wichtige staatliche und militärische Einrichtungen zu schützen, um die Polizei und Armee der Republik Kasachstan bei der Stabilisierung der Lage zu unterstützen.

Wenn das jedoch so schnell passiert, scheint alles im Voraus bereit gewesen zu sein. Das heißt, die russischen Luft- und Weltraumstreitkräfte wussten bereits, auf welchen Flugplätzen sie landen und in welcher Anzahl die militärischen Transportflugzeuge verfügbar waren. Die russischen Luftlandetruppen hatten klare Anweisungen des Verteidigungsministeriums und des Generalstabes, welche Regimenter und Divisionen in Alarmbereitschaft versetzt werden sollten. Auch die notwendige Ladung, Munition, Treibstoff und Lebensmittel, dürften schon vorher verpackt worden sein.

Logischerweise erforderte eine solche Entwicklung der Ereignisse neben dem politischen Willen eine weitere Bedingung: Moskau hätte im Voraus wissen müssen, was in Kasachstan in den letzten Wochen und Monaten vorbereitet wurde. Und Moskau wusste das natürlich.

Für das Verständnis der sich abzeichnenden Situation ist ein Detail wichtig: Offenbar betrachtet die politische und militärische Führung Russlands das Ereignis dort nicht als ein plötzliches kleines Feuer, das nur in dieser ehemaligen Sowjetrepublik aufflammt. Nein, die Schießereien und Pogrome in Kasachstan werden vom Kreml als Vorboten eines Gewitters gesehen, das sich unweigerlich aus Zentralasien als Ganzes Russland nähert. Hauptsächlich aus Afghanistan. Das heißt in Kasachstan und Afghanistan wurde die Lunte gelegt. Das Ziel ist aber Russland. Dementsprechend bereitete der Kreml schon im Vorfeld Abwehrreaktionen vor. Und er ist bereit, für Kasachstan zu kämpfen.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, Informationen militärisch-politischer Art zu nutzen, die seit letztem Herbst aus dieser strategischen Richtung kamen. Zum Beispiel warnte Mitte November 2021 der russische Sicherheitsratssekretär Nikolai Petruschev: Wenn die neuen Behörden in Kabul die Lage nicht normalisieren können, ist in Afghanistan ein Katastrophenszenario möglich. Die Entwicklung dieser Katastrophe in Afghanistan beinhaltet eine neue Runde des Bürgerkrieges, Hunger und allgemeine Verarmung der Bevölkerung. Und am 5. Januar 2022 wurden die Realität und die Aktualität von Petruschews katastrophaler Prognose überzeugend bestätigt. Nicht von irgendwem, sondern vom UN-Hauptquartier. Von dort kam am Mittwoch die Nachricht, die besagte, dass sich die humanitäre Lage in Afghanistan durch die einsetzende kalte Jahreszeit und starke Fröste verschlechtert habe. Im Land leiden Millionen Menschen an Erkältung und Nahrungsmangel. Ein Teil der Distrikte des Landes ist wegen starker Schneefälle von jeder Hilfe abgeschnitten. Die humanitäre Katastrophe wird jeden Tag schlimmer, die Menschen haben nicht genug Nahrung und Brennstoff, um ihre Häuser zu heizen.

Man könnte sagen: Was kümmert es uns, was in diesem ewig im Krieg befindlichen Land passiert, mit dem Russland keinen einzigen Meter einer gemeinsamen Grenze hat? Aber wir sprechen von Millionen von Menschen, die aus Afghanistan fliehen und wo es nicht möglich sein wird, Flüchtlinge von speziell ausgebildeten Militanten zu unterscheiden. Niemand wird sie außerhalb der Grenzen der ehemaligen UdSSR, in den mittelasiatischen Republiken, aufhalten können.

Und wenn es speziell um die Militanten in Afghanistan geht, sollte man auf den bekannten tadschikischen Politologen am Institut für Soziologische Forschung in Paris, Parviz Mullojanov, hören. Ihm zufolge gibt es im Norden Afghanistans etwa 7-8000 Militante, die aus anderen Staaten in dieses Land gekommen sind. Besonders aus dem Irak und aus Syrien. Der Politologe ist sich sicher, dass nach und nach die im Nahen Osten besiegten Strukturen des „Kalifats“ nach Afghanistan und Mittelasien gelangen werden.

In Afghanistan, nahe der Grenze zu den ehemaligen mittelasiatischen Republiken der UdSSR, errichtete das sogenannte „Haqqani-Netzwerk“ (eine in mehreren Ländern verbotene Terrororganisation) Trainingslager. Die Kämpfer, die diese Camps verließen, führten im Bündnis mit den Taliban den Guerillakrieg gegen die Regierungstruppen sowie gegen die Truppen der USA und anderer NATO-Staaten. Noch früher, in den 1980er Jahren, kämpfte dieselbe Organisation, die von dem extremistischen religiösen Führer Mawlavi Jalaluddin Haqqani gegründet worden war, gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan.

Die berüchtigte Al-Qaida, die mit den Taliban in Afghanistan schnell eine gemeinsame Sprache fand, gründete in der Nähe von Kabul drei eigene Stützpunkte zur Kampf- und ideologischen Ausbildung neuer Banditenformationen. „Wenn wir diese drei Faktoren zusammenfassen, besteht das Hauptproblem darin, dass Afghanistan möglicherweise bald zu dem wird, was das „Kalifat“ in Syrien oder im Irak war“, resümiert Mullojanov.

Und was das Fehlen einer gemeinsamen Grenze zwischen Afghanistan und Russland angeht: So liegt zwischen Russland und den Afghanen noch Kirgisistan, Usbekistan, Turkmenistan und Kasachstan, das heute in Brand gesteckt wurde, und bisher als eine Hochburg der politischen Stabilität galt. Mit 7.500 Kilometern gemeinsamer Landgrenze schottete Kasachstan Russland von den anderen mittelasiatischen Republiken ab. Jetzt ist diese Barriere zwischen Russland und Afghanistan praktisch weg. Sie schmolz im Rauch der Brände und Unruhen von Almaty, Aktobe, Atyrau, Pawlodar und anderen Städten und Dörfern Kasachstans.

Vielleicht liegt die Rettung darin, dass sich sein Militär im Voraus auf eine solche Wendung vorbereitet hat. In der wichtigsten russischen Hochburg in Zentralasien, dem 201. Militärstützpunkt in Tadschikistan, wurde 2021 eine Rekordzahl von 300 Übungen durchgeführt. Ein ganzes Jahr lang donnerten dort fast täglich die Kanonaden. Darüber hinaus erwies sich der taktische Hintergrund dieser Übungen als sehr charakteristisch. Es waren Maßnahmen zur Abwehr von Angriffen von Banditengruppen auf Militärlager in Duschanbe und Bokhtar, zur Verteidigung in den Bergen von Lyaur und Sambuli, zum Schutz von Munitionsdepots und Militärausrüstungsparks.

Ein weiteres Detail zeigt die Ernsthaftigkeit der Bedrohung Russlands und seiner Verbündeten aus dieser strategischen Richtung, in der Kasachstan nur ein Element ist. Am 7. Dezember erschien auf dem russischen Staatsportal, also buchstäblich einen Monat vor den aktuellen Ereignissen in Kasachstan, die Nachricht, dass Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan eine Art geheimes gemeinsames Kommunikationssystem zwischen ihren Armeen geschaffen haben, um Informationen auszutauschen und Aktionen zu koordinieren. Das Abkommen sieht einen ständigen Kampfeinsatz in den Gefechtsständen der teilnehmenden Länder vor. Das ist sicherlich ein weiterer Hintergrund für die Schnelligkeit, mit der die OVKS-Truppen nun in Kasachstan einmarschiert sind.

(Quelle: Ischenko, S., Swobodnaja Pressa, 6.01.22, redaktionell bearbeitete Übersetzung)

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