Zur Lage in Afghanistan

Nach dem skandalösen Abzug des amerikanischen Militärs und seiner Verbündeten aus Kabul schien es, als ob den Afghanen nun die Möglichkeit gegeben würde, die Ordnung im Land wiederherzustellen. Aber buchstäblich sofort tauchten Hinweise für eine zunehmende geheime Internationalisierung des langjährigen bewaffneten Konflikts in Zentralasien auf.

Am 8. September gab der Führer der Nationalen Widerstandsfront (National Resistance Front) in Afghanistan, Ahmad Massoud, der sich gerade unter dem Ansturm der Taliban in die Berge der Provinz Pantshir zurückgezogen hatte, dazu eine Erklärung ab. Der Sohn des ehemaligen Armeekommandanten Ahmad Shah Massoud sagte, dass der Widerstand im Pantshir-Tal nicht zu Ende sei, obwohl die größten Orte der Provinz unter die Kontrolle der Taliban gerieten. Die National Resistance Front machte Pakistan für das Missgeschick verantwortlich, das den Taliban angeblich, laut Massoud, verdeckte militärische Unterstützung gewährt hat.

Zuvor hatte der Iran bereits aufgerufen, die mögliche Einmischung Pakistans in die Feindseligkeiten im Pantshir-Tal zu untersuchen. Der Sprecher des iranischen Außenministeriums, Said Khatibzadeh, sagte, es sei notwendig, die Berichte über die Beteiligung pakistanischer Streitkräfte an den Kämpfen der Taliban gegen die National Resistance Front zu überprüfen. Tatsächlich tauchten am Vorabend des 7. September in sozialen Netzwerken Hinweise für Bombenangriffe auf die Provinz Pantshir durch Militärflugzeuge unbekannter Nationalität auf.

Schon zu Zeiten der Besetzung Afghanistans durch die USA und ihre Verbündeten wurde den Pakistanern bewaffnete Unterstützung der Taliban vorgeworfen. Was glaubwürdig war, wenn man bedenkt, dass die Trainingslager der Taliban-Bewegung, mit der offensichtlichen Duldung Islamabads jahrzehntelang auf pakistanischem Boden lagen und die Taliban von dort aus immer wieder nach Afghanistan vordrangen.

Was die Bombenangriffe im Pantshir-Tal betraf, kam noch eine Information des amerikanischen Fernsehsenders FOX News hinzu. Ihm zufolge waren mindestens 27 pakistanische Kampfhubschrauber an einer überraschenden Sonderoperation gegen die Afghanische Widerstandsfront beteiligt. Nach Angaben des Fernsehsenders zerstörten sie zahlreiche Befestigungen der Masud-Truppen in den Schluchten und an den Berghängen und sorgten so für den sofortigen Durchbruch der Taliban in die letzte uneinnehmbare Hochburg der National Resistance Front. Islamabad selbst wies die Vorwürfe eines massiven Angriffs auf die Pantshir-Schlucht kategorisch zurück.

Die Meldung des amerikanischen Fernsehsenders könnte man einfach als einen üblichen propagandistischen Trick abtun. Aber es gibt einen Umstand, der beweist, dass die pakistanischen Behörden dieses Mal mit ihrem Protest die Wahrheit sagen. Tatsache ist, dass Islamabad bei seinen Aktionen in Richtung Afghanistan gezwungen ist, immer wieder auf die Position Chinas zu blicken, das in Zentralasien immer einflussreicher wird. Und China ist heute in Bezug auf Afghanistan wegen der wachsenden Verbindungen der Taliban zu radikal-islamischen Organisationen in der Region sehr vorsichtig. Darunter befinden sich auch diejenigen, die in der Autonomen Region Xinjiang Uigur der VR China aktiv sind. Der prominente Analytiker der chinesischen Außenpolitik und Direktor des chinesischen Programms des amerikanischen Stimson Centers, Sun Yun, weist darauf hin, dass sich ein beträchtlicher Teil der uigurischen Militanten derzeit in Afghanistan befindet, aber von den Taliban festgesetzt wurde.

Deshalb werden die Chinesen hundertmal nachdenken, bevor sie in Afghanistan drastische Maßnahmen ergreifen oder solche Schritte ihrer Verbündeten in der Region befürworten. Dabei ist Islamabad nicht nur eng mit China verbunden. Tatsächlich sind die beiden Länder mit einer gemeinsamen Grenze von 523 Kilometern längst zu strategischen Partnern geworden. Zwischen ihnen entwickeln sich die Handelsbeziehungen rasant. 2008, während der pakistanisch-indischen Konfrontation, kündigte China an, Pakistan im Falle eines Krieges zu unterstützen. Es war Peking, das Pakistan angesichts der strengen Exportkontrollen des Westens mit Ausrüstungen, die dessen Atomwaffenprogramm voranzutreiben, versorgte. China half auch beim Bau eines Kernreaktors in Khushab, der eine Schlüsselrolle bei der Produktion von pakistanischem Plutonium spielt. Seit 2020 hat China den Bau eines Marinestützpunkts im pakistanischen Hafen Gwadar forciert. All dies führte dazu, dass der pakistanische Botschafter in Peking die aufkommenden zwischen-staatlichen Beziehungen sehr orientalisch kunstvoll charakterisierte. Er sagte: „Höher als Berge, tiefer als Ozeane, stärker als Stahl, teurer als ein Anblick und süßer als Honig“ seien sie. All das wegen der bewaffneten Unterstützung der Taliban auf das Spiel zu setzen, wäre unklug. Warum sollten die Pakistaner das tun? Aber wenn nicht pakistanische Piloten die Pantshir-Schlucht bombardierten, wer war es dann? Es ist möglich, dass der mysteriöse Luftschlag vom Territorium Tadschikistans aus kam. Und das nicht gegen die Truppen von Massoud, sondern gegen die vorrückenden Taliban. Was Masoud jedoch nicht half, den viel zahlreicheren Bodentruppen der Taliban zu widerstehen. Diese bemerkenswerte Variante wurde in der iranischen Ausgabe der Zeitung Parstoday erörtert. Dort wird die Meinung vertreten, dass der nächtliche Luftangriff in Wirklichkeit von afghanischen Piloten durchgeführt wurde, die zusammen mit ihren Kampfflugzeugen und Hubschraubern Ende August/Anfang September vor den Taliban nach Usbekistan und Tadschikistan flüchteten. Am selben Tag wurden ähnliche Informationen vom TV-Sender Sputnik Afghanistan veröffentlicht. Die Quelle dieser Veröffentlichung ist die National Resistance Front. Es ist erwähnenswert, dass sich heute auf dem Boden der ehemaligen Sowjetrepubliken tatsächlich eine ziemlich große Luftwaffengruppe der ehemaligen afghanischen Armee befindet. Bis Ende August flogen mindestens 12 Cessna 208 der afghanischen Luftwaffe und ein Pilatus PC-12NG Aufklärungsflugzeug sowie mindestens drei Hubschrauber zum Flugplatz der Stadt Bokhtar in Tadschikistan.

Nach Angaben westlicher Quellen landeten weitere 22 afghanische Flugzeuge und 26 Hubschrauber in Usbekistan auf dem Flughafen der Stadt Termez. Davon 11 leichte Aufklärungsflugzeuge Pilatus PC-12NG, die Teil des Geschwaders der Spezialkräfte der afghanischen Luftwaffe waren. Darüber hinaus sechs leichte Kampfflugzeuge A-29 Super Tucano und fünf bewaffnete Flugzeuge Cessna 208 Caravan. In der Nähe des Flugplatzes Termez landeten auch neunzehn afghanische Hubschrauber Mi-8/17 und sieben UH-60A Black Hawk. Die Piloten dieser Flugzeuge sind in hastig aufgebauten Flüchtlingslagern unter Bewachung untergebracht. Afghanische Militärpiloten kämpften zusammen mit den Amerikanern jahrelang gegen die Islamisten. Daher sind sie sich sicher, dass ihnen im Falle einer Abschiebung die unvermeidliche Hinrichtung droht. Es scheint jedoch, dass Usbekistan, das keinen Ärger mit den in der Nachbarschaft herrschenden Taliban wünscht, diesen Militärs keinen länger befristeten Aufenthalt gewähren will. Und bald wird es sie zusammen mit ihren Flugzeugen und Hubschraubern an jeden abschieben, der sie haben will.

Tadschikistan vertritt eine grundlegend andere Position. So leistet Duschanbe,  das sich auf die Unterstützung der russischen 201. Militärbasis verlässt, der Nationalen Widerstandsfront von Massoud bereits offen erhebliche Unterstützung. Ende August kamen mehrere Hubschrauber der Widerstandskräfte beim Betrieb einer Luftbrücke zwischen Tadschikistan und der Provinz Pantshir, in der ethnische Tadschiken leben, zum Einsatz. Mit Hilfe der Hubschrauber wurden Waffen, Munition und anderer Nachschub für die National Resistance Front in die Provinz geliefert. Das berichtete die Zeitung Herat Times.

Noch bemerkenswerter scheint eine andere Informationen aus der Herat Times zu sein. Sie lautet, dass das Verteidigungsministerium Tadschikistans im August von Bokhtar aus ins Pantshir-Tal ein Dutzend leichter Kampfflugzeuge eingeflogen hat. Bei der Luftwaffe und der Luftverteidigung der Streitkräfte Tadschikistans gibt es jedoch keine leichten Kampfflugzeuge. Auch keine Flugzeuge, die eine Bombenlast tragen können. Daher kann es sich nur um die Rückkehr einiger A-29 Super Tucano und Cessna 208 Combat Caravan und ihrer Piloten handeln.

Angesichts der oben genannten Informationen erscheint die angebliche Teilnahme von Kampfpiloten der ehemaligen afghanischen Armee an den Ereignissen in der Pantshir-Schlucht logisch. Aber was bedeutet das für Russland? Zumindest ist das für Moskau eine zusätzliche Komplikation mit dem islamistischen Regime in Kabul. Schließlich kontrolliert das russische Militär auf der Grundlage des Dekrets Nr. 705 der Regierung der Russischen Föderation vom 4. Mai 2021 gemeinsam mit Tadschikistan durch das gemeinsame regionale Luftverteidigungssystem vollständig den Himmel über der Republik. Ohne das Wissen und die Zustimmung Russlands startet, fliegt und überfliegt kein Flugzeug den Luftraum Tadschikistans. Erst recht nicht Flugzeuge mit Bomben in Richtung des benachbarten Afghanistan. Folglich war Moskau über die bevorstehenden Luftangriffe gegen die Taliban im Pantshir-Tal informiert. Moskau versichert jedoch, alles zu tun, um nicht wieder in einen neuen Afghanistankrieg hineingezogen zu werden.

 

(Quelle: Ischtschenko, S., Swobodnaja Pressa, 08.09.21, redaktionell überarbeitete Übersetzung)

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