Der Streit zwischen Minsk und Moskau über den Verkauf des Raketensystems „Iskander-M“

Nach Angaben des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko gibt es zurzeit einen Dialog zwischen Moskau und Minsk über die Lieferung russischer operativ-taktischer Raketenkomplexe (OTRK) „Iskander“ nach Weißrussland.

Der Präsident von Belarus sagte der russischen Zeitschrift „National Defense“. „Ich brauche mehrere Feuerabteilungen im Westen und im Süden unseres Landes. Das sind 500 Kilometer Reichweite, denn unsere A-200 „Polonaise“ (von den Weißrussen selbst mit Hilfe Chinas gebauter 301-mm-Mehrfachraketenwerfer) haben nur eine Reichweite von bis zu 200 Kilometern. Jetzt dränge ich den russischen Präsidenten, ich brauche diese 500-Kilometer-Raketenkomplexe in Belarus“.

Damit hat der alte und bisher fruchtlose Streit zwischen Russland und Weißrussland um „Iskander“ ein neues Niveau erreicht.

Zum ersten Mal kündigte das offizielle Minsk vor fast zwei Jahrzehnten, im Jahr 2003, seinen Wunsch an, mehrere Komplexe „Iskander“ zu erhalten (Russland hatte jedoch damals wegen des INF-Vertrages kein Recht, diesen Komplex ins Ausland zu verkaufen).

Der damalige Chef der Artillerie- und Raketentruppen Weißrusslands, Oberst Puzikov, veröffentlichte nach der Bekanntgabe der „Iskander“-Idee einen konkreten Plan zur Einführung der Raketen bei seinen Truppen. Laut Puzikov hatte es den Anschein, dass das Kommando der belarussischen Armee beabsichtigte, die 465. Raketenbrigade damit auszurüsten. Bisher ist die Brigade mit veralteten taktischen „Totschka-U“-Raketensystemen aus sowjetischer Produktion ausgestattet.

In der 465. Raketenbrigade gibt es drei Feuerabteilungen. Jede umfasst drei Batterien. Jede Batterie verfügt über drei Startfahrzeuge. Somit ist davon auszugehen, dass die Führung des belarussischen Verteidigungsministeriums voraussichtlich 27 „Iskander“-Startfahrzeuge mit je zwei Raketen von Russland erhalten wollte. Darüber hinaus war im Rahmen der Unterstützung der Partner der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit ein Kauf auf Kredit und zu ermäßigten Preisen vorgesehen.

Wenn diese Forderung realisiert worden wäre, hätte die belarussische Armee in Bezug auf ihre taktische Raketenschlagkraft sofort die führende Rolle in Europa eingenommen. Aber diese ehrgeizigen Pläne wurden nicht realisiert. Lukaschenko bekam von Putin eine Absage. Weder aus Moskau noch aus Minsk kam ein Wort zu den Gründen dieser Ablehnung. Aber es wird vermutet, dass die Angelegenheit hinter den verschlossenen Türen fast zu einem Skandal wurde.

Alles, was im Bereich der militärisch-technischen Zusammenarbeit scheitert, scheitert am Geld. Zu dieser Zeit wollte in Moskau niemand von militärischen Geschenken für Lukaschenko etwas hören. Denn die Finanzen für den Deal waren für Belarus fast unerschwinglich. Von 200 bis 300 Millionen Dollar war die Rede. Und dann nur, wenn es sich nicht um 27, sondern um nur 12 Startfahrzeuge und in der Exportvariante „Iskander-E“ handelt. Allerdings hätten die Kosten des MZKT-7930-Fahrgestells für die „Iskander“-Komplexe, das im „Minsker Traktorenwerk“ hergestellt wurde, von diesem Betrag abgezogen werden müssen. Jedenfalls versuchte Lukaschenko am 23. April 2009 seinen Groll gegen seinen engsten Verbündeten öffentlich zu machen: „Wir haben die Russen nie nach geschenkten „Iskander“-Komplexen gefragt. Wir wollen sie kaufen. Und ich sage offen: Wenn das nicht geht, werden wir sie bei Bedarf selbst herstellen, außer den Raketen, die müssen wir kaufen. “

Viele Jahre sind vergangen – n die Arbeit an einem eigenen operativ-taktischen Raketensystem in seinem Land hat noch nicht einmal begonnen. Inzwischen, wie aus dem letzten Interview des belarussischen Führers hervorgeht, begann er erneut Putin zu drängen. Die Erfolgschancen sind heute immer noch zweideutig, obwohl die NATO und vor allem die Polen an der belorussischen Grenze immer aggressiver werden. Durch Washingtons Entscheidung, eines seiner neuen Raketenabwehrsysteme im benachbarten Polen zu stationieren, ist heute, nach Aufkündigung des INF-Vertrages durch die USA und dem gefährlichen Vorrücken amerikanischer Raketenabwehrsysteme an die Grenze Russlands, Moskau an Abwehrmaßnahmen interessiert. Daher scheint es, dass der heutige  Antrag der Weißrussen zunächst in Russland auf günstigen Boden fällt.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Moskau auch diesmal von Minsk „echtes Geld“ für die „Iskander“ fordert.. Diese Meinung wird durch den Verkauf eines Geschwaders von 12 russischen schweren Jägern des Typs Su-30SM an die Weißrussen im Jahr 2017 erhärtet. Diese Flugzeuge kosteten den russischen Verbündeten 600 Millionen Dollar. Und wie sie selbst berechneten, kommt am Ende unter Berücksichtigung von Service und Wartung, planmäßigen Reparaturen und der Lieferung von Raketenwaffen bis zu eine Milliarde Dollar zusammen, was für den armen Nachbarn einfach erdrückend ist.

Warum sollte es in den heutigen Iskander-Verhandlungen anders sein? Aber Russland hat, angesichts der sich immer weiter verschärfenden militärpolitischen Lage an den Westgrenzen des Verbündeten, einen Grund für neue Verhandlungen. Russland würde gerne eine eigene Raketenbrigade aus einem seiner Militärbezirke abziehen und einfach in Weißrussland mit russischer Bedienung stationieren. Um Lukaschenkos Souveränitätsstolz nicht zu gefährden und unter Berücksichtigung seiner innenpolitischen Probleme könnte das ähnlich ablaufen wie bei der Schaffung einer russischen Luftverteidigungs-Militärbasis in Form eines Ausbildungs- und Kampfzentrums beider Armeen. Mit anderen Worten: es wird der derselbe Weg gewählt, auf dem vor wenigen Monaten das aus Dmitrow bei Moskau eingetroffene Flugabwehrraketensystem S-400 mit russischer Besatzung im Ausbildungszentrum  bei Baranowitschi in Gefechtsbereitschaft versetzt wurde. Warum soll Moskau es vorziehen, an Weißrussland eine Exportversion der „Iskander“ verkaufen, wenn die viel effektivere Version „Iskander-M, mit unvergleichlich höherem Kampfwert auch so in Belarus stationiert werden kann?

Die Reichweite von „Iskander-E“ (die Exportversion wurde zum Beispiel einmal nach Armenien verkauft) beträgt nur bis 280 Kilometer. Die Treffergenauigkeit unterscheidet sich von den Parametern der „Iskander-M“ fast um das Zehnfache. Die Abweichung vom Ziel beträgt bei der „Iskander-M“ zwei Meter gegenüber 20 Metern bei der Exportvariante. Und der „Iskander-M“-Komplex kann nicht nur ballistische Raketen 9M723-1 verschießen, sondern auch Unterschall-Marschflugkörper R-500, deren maximale Reichweite 2000 Kilometer beträgt. Aber das ist noch nicht alles. Der Komplex verfügt auch über weitere Marschflugkörper des Typs 9M729, der die Amerikaner besonders erschrecken. Die Russen haben diesen Marschflugkörper, laut Pentagon, bereits mit Reichweiten von bis zu 5.500 Kilometern getestet. Damit gibt es keine Ecke in Europa, in der man sich vor solchen Waffen sicher fühlen kann. Sogar in London nicht.

Übrigens nicht weit von Minsk, in der Stadt Tschernjachowsk, im Gebiet Kaliningrad, steht die 152. operativ-taktische Raketenbrigade der russischen Baltischen Flotte, ausgerüstet mit „Iskander-M“. Wenn man jedoch bedenkt, was gerade in Polen passiert, würde für Russland eine weitere Stationierung in Belarus von Vorteil sein. Und gerade jetzt hat das Europäische Kommando der US-Armee offiziell die Reaktivierung des 56. Field Artillery Command bekannt gegeben, das während des Kalten Krieges für die Mittelstreckenraketen der Pershing-II-Klasse in Europa verantwortlich war. 1991 wurde es im Zusammenhang mit dem INF-Vertrag und dem  Zusammenbruch der Sowjetunion aufgelöst. Das Hauptquartier des 56. Kommandos, das von Generalmajor Stephen Maranian geleitet wird, ist in Deutschland, bei Mainz-Kastel stationiert. Laut der Zeitung „The Sun“ (Großbritannien) stehen General Maranian künftig die US-Langstrecken-Hyperschallraketen „Dark Eagle“ zur Verfügung, deren Entwicklung in den USA seit 2019 in vollem Gange ist. Es wird angenommen, dass diese Raketen mit einer geschätzten Geschwindigkeit von Mach 6,5 von Deutschland aus die westrussische Grenze innerhalb von 21 Minuten erreichen können. Somit würde dem Kreml nur eine minimale Zeit bleiben, um eine Entscheidung über einen Vergeltungsschlag und die Raketenabwehr zu treffen.

 

(Quelle: Ischenko, S., Swobodnaja Pressa, 16.11.21, redaktionell bearbeitete Übersetzung)

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