Gegen Hegemonie der USA

Gegen Hegemonie der USA
Quelle: Collage tvnva, Archiv tvnva

Die Züricher Zeitung Zeit-Fragen dokumentiert in ihrer Ausgabe vom 23. März 2021 einen offenen Brief französischer Ex-Militärs an NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. In dem Brief kritisieren die ehemaligen Offiziere und Generäle das seit Februar 2021 vorliegende Strategiepapier NATO 2030. Die im elitären Cercle de Réflexion Interarmées aktiven Militärs analysieren, dass die Umsetzung des NATO-Programms zu einer nicht mehr umkehrbaren strategischen Unterordnung Europas und Frankreichs unter die Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika führen würde.

Es sei ersichtlich, „dass die gesamte Ausrichtung der Nato auf dem Paradigma einer doppelten Bedrohung beruht, einer russischen, die als akut dargestellt wird, und einer chinesischen, die potentiellen Charakter hat und in Zukunft auftreten wird.“ Das NATO-Strategiepapier sei „ein Dokument zwar als friedlich präsentierter, aber böswilliger Absichten, der unerschütterlich betriebenen Desinformation und Instrumentalisierung dieser ‚russischen Bedrohung‘, einer ‚Bedrohung‘, die von langer Hand geschaffen wurde und nun aufrechterhalten wird, um den europäischen Verbündeten endlich Beine zu machen, sich hinter den Vereinigten Staaten in Stellung zu bringen – mit Blick auf den bevorstehenden Kampf mit China um die Welthegemonie.“

Die vor allem seit 2014 allenthalben zu beobachtende Dämonisierung Russlands durch die NATO hat nach Auffassung der französischen Militärs einen historischen Kontext: „Denn in der Tat beginnt die Geschichte ja nicht im Jahr 2014, und es ist ein Zeichen unerschütterlicher historischer Böswilligkeit in bezug auf die europäisch-amerikanisch-russischen Beziehungen, in einem einzigen Satz ... von der Beschwörung der ‚konstruktiven Partnerschaft‘, die von der Nato Anfang der 1990er Jahre ins Leben gerufen worden sei, direkt zur Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 überzugehen, als ob zwischen 1991 und 2014, zwischen dem ‚netten Russland‘ von damals und dem bösen ‚russischen Bären‘ von heute, nichts passiert wäre...Es ist aber tatsächlich die Nato gewesen, die sich seit den neunziger Jahren gewaltsam in Richtung Osten erweiterte, sicherlich auf Wunsch der betroffenen Länder, aber in Verletzung der Zusicherungen, welche sie Russland 1991 bei der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags gegeben hatte – eine Bewegung, die Jahr für Jahr die Nato-Armeen näher an die Grenzen Russlands heranführte und dabei den Zerfall der ehemaligen UdSSR ausnutzte. Es war auch die Nato, die ohne jegliches Uno-Mandat Serbien 78 Tage lang mit mehr als 58 000 Lufteinsätzen bombardierte, und dies auf der Grundlage einer ausgedehnten Operation von Manipulation und Verhetzung wichtiger Mitglieder des Bündnisses durch bestimmte Geheimdienste... und damit, in Verletzung bindenden internationalen Rechts, die Schaffung eines unabhängigen Kosovo einleitete, indem sie einem souveränen Staat im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker einen Teil seines Territoriums entriss und so Russland mittels seines serbischen Verbündeten demütigte. Ließe sich dieses Prinzip auch auf Parallelen anwenden, etwa wenn es um die Krim geht, welche zu mehr als 90 Prozent von Russen bevölkert ist und die sich Russland angeschlossen hat, ohne dass ein Schuss gefallen ist?...Es war wiederum die Nato, die 2008 im Zuge ihrer dynamischen ‚Eroberung des Ostens‘ die von Russland ausgestreckte Hand für einen erneuerten ‚Europäischen Sicherheitspakt‘ ablehnte, der die ungelösten Konflikte in Osteuropa (Transnistrien, Abchasien, Südossetien) regeln sollte, im Austausch für eine gewisse Neutralität Georgiens, der Ukraine, Moldawiens – also des unmittelbaren russischen ‚Hinterlandes‘ – gegenüber der NATO. ...Und mit demselben Eroberungsgeist, der von Russland als echte Würgebewegung empfunden wird, wurden 2013 die schweren Unruhen des ‚Euro-Maidan‘ gefördert, ein echter Staatsstreich, der zur Beseitigung des rechtmäßig gewählten ukrainischen Präsidenten führte, der als zu pro-russisch beurteilt wurde, als dass er die Politik der Annäherung der Ukraine an die NATO hätte fortsetzen können. ...Wir wissen, was dann geschah, mit den Sezessionen der Krim und des Donbass.“

Die Autoren des offenen Briefes gehen schließlich mit der NATO und den Vereinigten Staaten auch hinsichtlich der Raketenrüstung ins Gericht. Im Kern werfen sie der NATO auch bei diesem Thema Wortbruch gegenüber Russland vor. „...Nachdem die NATO in den frühen 2000er Jahren Russland mit einem Theatre missile defence system (Raketenabwehrsystem für den Kriegsschauplatz) an sich gebunden hatte, das die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, einschließlich Russlands vor Raketenangriffen ‚von Schurkenstaaten‘, insbesondere Iran und Nordkorea, hätte schützen sollen, wandelte sie 2010, auf dem NATO-Gipfel in Lissabon, dieses System in eine globale Architektur zur Abwehr ballistischer Raketen in Europa um (BMDE), ... nun allerdings gegen Russland gerichtet und alles andere als zu dessen Schutz. Es war wiederum die NATO, die Russland versicherte, dass die vor seiner Haustür stationierten Abschussrampen für ballistische Antiballistik-Raketen (ABM) niemals zu Anlagen für Angriffe gegen sein nahes Territorium umfunktioniert werden könnten, ‚nur vergaß sie zu erwähnen‘, dass diese Trägerraketen (MK-41) von ABM-Raketen in Wirklichkeit genauso gut dazu verwendet werden konnten, offensive Tomahawk-Raketen gegen das russische Territorium abzufeuern,... was in eklatantem Widerspruch zum INF-Vertrag stand, der zum Zeitpunkt ihrer Stationierung noch in Kraft war.“

Russland habe angesichts dieser fortgesetzten Wortbrüche der NATO Konsequenzen gezogen. „Die damit real praktizierte potentielle Bedrohung der russischen Zweitschlagskapazität, der Grundlage seiner nuklearen Abschreckung, stellte das amerikanisch-russische strategische Gleichgewicht ernsthaft in Frage und führte dazu, dass Russland Ende 2013, also noch vor der Krim-Affäre 2014, jegliche Zusammenarbeit im NRC (Nato-Russland-Rat) aussetzte, was dann von der Nato genutzt wurde, um – a posteriori – den BMDE-Schutz Europas angesichts der neuen ‚russischen Bedrohung‘ zu rechtfertigen!“

Die NATO arbeite seit 20 Jahren daran, „den ‚russischen Feind‘ neu zu erschaffen“. Russland sei schließlich seine eigenen Wege gegangen und habe „im Osten die Zusammenarbeit gesucht, die ihm der Westen verweigert hat“. „Das Unternehmen, Russland von Europa zu trennen“, das von der NATO „unter der ständigen Aufsicht der Vereinigten Staaten über Jahre hinweg mit Ausdauer durchgeführt wurde, ist heute in vollem Gange, da Russland endlich wieder ‚zur russischen Bedrohung‘ geworden ist, welche die provokativsten Manöver ...– immer näher an seinen Grenzen – rechtfertigt, sowie die verrücktesten neuen Konzepte des Mini-Atomeinsatzes auf europäischem Territorium, unter der Befehlsgewalt des amerikanischen Verbündeten, der allein den Schlüssel dazu in Händen hält.“

Russland stelle mit seinem Militärhaushalt von 70 Milliarden Euro (knapp doppelt so viel wie Frankreich) keineswegs eine Bedrohung für die NATO dar, die jährlich 1000 Milliarden Euro für Rüstung und Militär ausgebe, „von denen 250 von den europäischen Ländern im Bündnis aufzubringen sind!“

Im Kern gehe es bei der Konzeption NATO 2030 um „die Einbeziehung des Atlantischen Bündnisses in den Kampf um die Weltherrschaft, der zwischen China und den Vereinigten Staaten ausgetragen werden soll.“ Es gehe den USA darum, „die europäischen Verbündeten, die sich nur ansatzweise ein Erwachen der europäischen Autonomie vorstellen konnten, wieder in den Griff zu nehmen.“

Die NATO solle von einem Defensivbündnis, das zum Schutz Europas vor einem nicht mehr existierenden Feind aufgebaut wurde, in ein Offensivbündnis gegen einen Feind umgewandelt werden, den es für Europa nicht gibt. Die NATO reklamiere in dem Papier für sich eine globale politische Berufung, die Vorrang vor jeder anderen internationalen Organisation hat. Und sie versuche, diese globale Orientierung organisatorisch und strategisch umzusetzen. Die französischen Militärs erklären, dass die NATO, „nicht aufhörte, sich mit ganzem Herzen in die politische Rechtfertigung für den Erhalt ihres militärischen Werkzeugs zu stürzen, indem sie sich ihren neuen russischen Feind zusammenschmiedete“ und dass das westliche Bündnis damit tendenziell zu einer Gefahr für Europa geworden sei. Die NATO betreibe von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer eine gewaltige Aufrüstung und betrachte Europa nur noch als künftiges Schlachtfeld. Das Dokument NATO 2030 sei in letzter Konsequenz der Versuch, die westliche Allianz in ein militärisches Instrument umzuwandeln, „um riesige internationale Koalitionen zu verwalten, zugunsten einer eigentlichen Weltregierung, die sogar so weit geht, die Entscheidungen der Vereinten Nationen außer Kraft zu setzen und nationale Souveränitäten zu zerschlagen!“

Frankreich könne „in Erinnerung an seine von General de Gaulle vor einem halben Jahrhundert bekräftigten Grundsätze dem abenteuerlichen Konzept niemals zustimmen, das Europa unter amerikanische Vormundschaft stellen will.“

Leider fehlt deutschen Militärs und Politikern offenkundig der Willen und der Mut, in ähnlicher Weise nationale Interessen zu definieren und durchzusetzen, wenn das zu Konflikten mit den USA führen könnte. Es ist an der Zeit, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und endlich eine Außenpolitik zu betreiben, die für Ausgleich und dauerhafte Kooperation mit Russland sorgt.

Quelle:

https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2021/nr-7-23-maerz-2021/europa-nicht-unter-us-amerikanische-vormundschaft-stellen.html

von Redaktion (Kommentare: 0)

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