Die OVKS-Operation in Kasachstan und ihre politischen Folgen

Die riskanteste Phase der ersten Friedenssicherungsoperation der OVKS, an der das Militär aller sechs Mitgliedsländer beteiligt war, geht zu Ende. Die wichtigste Schlussfolgerung: Die Situation in Kasachstan, in der unmittelbar nach Neujahr eine groß angelegte und vom Ausland koordinierte Rebellion aufflammte, konnte schnell unter Kontrolle gebracht werden.

Es lassen sich bereits einige wichtige Details zum Verständnis der weiteren Perspektiven für die Entwicklung der Situation in Kasachstan erkennen. Offenbar gab es für den plötzlichen Truppeneinmarsch in Kasachstan, der in der Nacht zum 6. Januar begann, keinen klaren Plan. Und die OVKS-Führung hatte wenig Ahnung davon, was unmittelbar nach der Landung zu erwarten war. Daher mussten die Militärs viel improvisieren und entsprechend der sich dynamisch verändernden Lage agieren.

Am ersten Tag der Operation erklärte der derzeitige OVKS-Generalsekretär Stanislav Zas, der Vertreter Weißrusslands, dass die Stärke der Friedenstruppe ungefähr 2.500 Mann betrage. Was hätten diese Kräfte in einem für europäische Verhältnisse so riesigen Land, in dem die Brutstätten des Ausbruchs der Rebellion oft Tausende Kilometer voneinander entfernt waren, unter Kontrolle bringen können?

Auf dem Territorium Kasachstans befinden sich einige russische strategische Einrichtungen. Vor allen der Kosmodrom „Baikonur“ und das 10. Raketen-Versuchsgelände „Sary-Shagan“ bei Priorsk, wo Russland unter anderem Laser- und Antisatellitenwaffen erprobt. Es wäre notwendig gewesen, in erster Linie mit russischen Einheiten der Friedenstruppe für die Sicherheit dieser Einrichtungen zu sorgen. In „Baikonur“ wurde durch zivile Kräfte eine Ausgangssperre eingeführt und jeder Zugang von außerhalb in das Gelände und die Wohnstadt wurde bis zum 19. Januar 2022 gesperrt. Aber man war sich in Moskau sofort klar, dass man sich nicht darauf beschränken kann, die russischen Truppen hinter den Betonzäunen der russischen Einrichtungen sitzen zu lassen, während auf den Straßen programmierte Rebellen versuchen, den kasachischen Staat wegzufegen und sich Zutritt zu den Arsenalen der Miliz und der Staatssicherheitsbehörden des Landes  verschafften. So musste die in Kasachstan eingesetzte OVKS-Gruppierung um ein Vielfaches erhöht werden, um die Kontrolle über die wichtigsten Objekte der zivilen Infrastruktur Kasachstans zu erhalten. Zuallererst z.B. über das Unternehmen „NAC Kasatomprom JSC“, die nationale Nukleargesellschaft Kasachstans, die 42 Prozent der Uran-Weltproduktion abbaut. Und auch der Flughafen von Alma-Ata musste sofort von Banditen, die ihn mit Waffengewalt erobert hatten, gesäubert werden.

Infolgedessen begann man, weit über die Möglichkeiten der OVKS hinaus, die Stärke der Friedenstruppen in Kasachstan zu erhöhen. Und der Einsatz begann sich immer deutlicher zu einer groß angelegten strategischen Friedensoperation vor allem der Streitkräfte der Russischen Föderation zu entwickeln.

In dem bereits erwähnten Interview versicherte OVKS-Generalsekretär Zas, dass der Umfang der am 6. Januar begonnenen Operation im Bedarfsfall leicht erhöht werden könne. Gleichzeitig nannte er aber auch die Grenzen einer solchen Erhöhung. Das sind bis zu 3.600 Soldaten und Offiziere. Allein schon deshalb, weil Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan der OVKS-Organisation nach Vereinbarungen genau so viele Friedenstruppen zur Verfügung gestellt haben.

Leider hielten all diese Berechnungen von Zas nur einen Tag. Denn bereits am 7. Januar gab der offizielle Vertreter des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation, Generalmajor Igor Konaschenkow, bekannt, dass eine rund um die Uhr betriebene Luftbrücke für den Truppentransport eingerichtet wurde, die aus etwa 70 schweren Militärtransportern Il-76 und fünf superschweren An-124 „Ruslan“ besteht. So wurde fast alles, was die militärischen Lufttransporteinheiten der russischen Luftwaffe bei Alarmbereitschaft schicken konnten, eingesetzt.

Was sind 2.500 oder sogar 3.600 Mann Friedenstruppe? Wenn nur eine Il-76 in der Zwischendeck-Modifikation bis zu 225 Fallschirmjäger mit persönlicher Ausrüstung und Waffen aufnehmen kann. Oder bis zu 60 Tonnen Fracht. Und jeder „Ruslan“ kann bis zu 120 Tonnen Fracht oder bis zu 880 Soldaten mit persönlicher Ausrüstung aufnehmen. Aber nach Presseberichten hat die russische Luftwaffe allein am 8. Januar nur zum Flughafen von Alma-Ata, der für zivile Linienflüge gesperrt war, bis zu fünfzig Flüge mit diesen Transportern durchgeführt.

Selbst wenn jedes militärische Transportflugzeug nur ein einziges Mal abheben würde, wären insgesamt etwa 4.500 bis 5.000 Tonnen Fracht nach Kasachstan geliefert worden. Aber die Luftbrücke, wie uns General Konaschenkow versicherte, arbeitete seit Anfang Januar rund um die Uhr. Und fast eine Woche lang. Und das alles nur im Interesse eines relativ kleinen Kontingents an OVKS-Einheiten?

Es ist kein Zufall, dass schon am nächsten Tag öffentlich bekannt wurde, dass die Gesamtstärke des nach Kasachstan verlegten Militärkontingents bereits 19.000 Soldaten und Offiziere erreicht habe – mit gepanzerten Fahrzeugen, die für Patrouillen und die Schaffung zuverlässiger Kontrollpunkte erforderlich sind. Das kommt der Wahrheit schon näher. Es ist als erwiesen anzusehen, dass der Generalstab der Streitkräfte der Russischen Föderation mit den für volle Kampffähigkeit ausgerüsteten strategischen Spezialeinsatzkräften, den Luftlandetruppen und den militärischen Lufttransporteinheiten eine strategische Operation zur Stabilisierung der Lage in Kasachstan durchführte. Eine ähnliche Operation fand 2015 zur Verlegung von Truppen nach Syrien statt.

Dieses Unterfangen ist finanziell jedoch sehr teuer. Nur eine Stunde Flug allein der An-124 „Ruslan“ kostet etwa 40.000 Euro. Und wie viele solcher Stunden muss die Besatzung in der Luft verbringen, um mehr als einmal, z.B. von Ivanowo oder Schkalowsk nach Alma-Ata, Baikonur, Priorsk und zurück zu fliegen?

Wahrscheinlich hat Moskau einige sehr wichtige Gründe für diese gigantischen Ausgaben. Welche Gründe es genau sind, ist offiziell noch nicht bekannt. Um etwas Genaueres darüber zu erfahren, sollte man die türkische Presse zu Rate ziehen. Insbesondere die Zeitung „Yeni Akit“, die eng mit dem türkischen Präsidenten Recep Erdogan und seiner regierenden Partei verbunden ist. Den Quellen dieser Zeitung zufolge hat der Kreml als Reaktion auf das kasachische Hilfsersuchen eine Reihe von Bedingungen gestellt. Die bedeutendste davon scheint Tokajews Zustimmung zur Errichtung einer russischen Militärbasis auf dem Territorium Kasachstans zu sein. Und es scheint, dass es diesmal, da Erdogan die Entwicklung der Ereignisse in dem Nachbarstaat sehr genau beobachtet, keine journalistische „Ente“ zu sein. Denn ein sehr aufschlussreiches Echo zu den Meldungen  aus Ankara kam sofort aus den Machtkorridoren Moskaus. Laut „Interfax“ schlug der stellvertretende Vorsitzende der Partei „Faires Russland“,  Sergej Mironow, sofort vor, das OVKS-Friedenskontingent in Kasachstan dauerhaft zu stationieren. „Die OVKS-Truppen können die Grundlage für die Bildung eines Systems zur Bekämpfung des Extremismus in Kasachstan sein, auch zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung. Ich schlage vor, die Frage der ständigen Präsenz des OVKS-Militärs in der Republik zu prüfen. Das wird für die kommenden Jahre Frieden und Ruhe bringen “, sagte Mironow. Am 6. Januar wurde Mironow von Leonid Kalaschnikow, dem Vorsitzenden des Staatsduma-Ausschusses für GUS-Angelegenheiten, unterstützt. Seine Meinung ist wie folgt: „Es wird eine solche Entscheidung geben (über den dauerhaften Einsatz russischer Truppen in Kasachstan – „SP“) – ich würde sie begrüßen. Die Sicherheit unserer Länder ist ständig bedroht, die ganze Zeit wird unsere Stärke getestet.“

Wenn so gut abgestimmte Verlautbarungen zu einem Thema aus verschiedenen Richtungen und sogar aus dem Ausland kommen, bedeutet das in der Regel, dass so etwas tatsächlich diskutiert wird. Aber es ergibt sich die Frage: Braucht Russland das? Zumindest, um gemeinsam mit dem kasachischen Militär die Kontrolle über die Südgrenze dieses riesigen Nachbarstaates zu übernehmen, der von islamistischen Horden aus Afghanistan zersetzt und überflutet wird. Eine solche Militärbasis wäre auch, was Baikonur betrifft, für Russland sehr nützlich. Trotz der Milliarden, die Russland ausgab, ist es über Jahrzehnte nicht gelungen, weder in Swobodny noch in Wostochny, noch in Plesetsk, einen vollwertigen Ersatz für Baikonur zu schaffen,. Daher war Russland gezwungen, den Pachtvertrag für Baikonur bis 2050 zu verlängern. Am liebsten würden die Kasachen Russland aus Baikonur vertreiben. Am 2. Oktober 2020 sagte der noch zu Sowjetzeiten ins All geflogene erste kasachische Kosmonaut, Generalmajor der Luftwaffe, Toktar Aubakirow, in einem Interview mit der lokalen Nachrichtenagentur „Abai. Kz“ sehr kategorisch: „Russland wird am Ende von Baikonur nach Hause gehen. Aber es wird nicht einfach gehen, sondern alles zerstören, bevor es geht.“ Aber Kasachstan, da ist sich Aubakirow sicher, kann Baikonur ohne Moskaus Hilfe nicht betreiben. Dazu hat sein Land nicht genug „Entschlossenheit und Mut“ und es wäre notwendig, Spezialisten aus dem Ausland einzuladen. Nur mit ihrer Hilfe könnte dann Kasachstan den Kosmodrom selbst in die Hand nehmen. „Nur dann wird Baikonur für immer den Kasachen gehören“, schloss Aubakirow. In der jüngsten Vergangenheit war Aubakirow Assistent des Präsidenten des Landes für Weltraumforschung und Generaldirektor der Nationalen Luft- und Raumfahrtbehörde der Republik Kasachstan.

Es gibt keinen Zweifel, dass Moskau, wenn sich beispielsweise Baikonur aufgrund der aktuellen tragischen Ereignisse in einen russischen Militärstützpunkt verwandeln sollte, solche Ultimaten aus der Hauptstadt eines befreundeten Landes nicht mehr hören wird. Und ein solcher Militärstützpunkt würde sehr dazu beitragen, ein trilaterales Format der Verbindung „Russland-Weißrussland-Kasachstan“ zu bilden. Das würde viele der Widersprüche, die zwischen den befreundeten Staaten entstanden sind, auf einen Schlag lösen.

Man kann nicht ignorieren, was der Präsident von Weißrussland, Alexander Lukaschenko, am 7. Januar demonstrierte. An diesem Tag sagte er: „Die Welt wird sich verändern, wenn es darum geht, Völker und Staaten zu Bündnissen zu vereinen. Für Staaten wie unsere wird es nicht nur schwierig, alleine zu überleben, es wird sogar unmöglich werden. Deshalb habe ich einen härteren Kurs eingeschlagen, um unsere Souveränität und Unabhängigkeit zu bewahren, damit wir ein eigener Staat bleiben, aber in engem Bündnis mit unseren engsten Freunden und Brüdern sind. Das ist Russland, das ist Kasachstan aber auch die Ukraine, egal, was heute dort passiert.“ Nachdem man das gehört hat, sollte man sich sofort daran erinnern, dass derselbe Präsident am 27. Februar 2020 eine andere Meinung hatte und er absolut keinen Sinn darin sah, politisch oder militärisch oder in einer Wirtschaftsunion mit Russland und Kasachstan zusammenzuarbeiten. In einem Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der Eurasischen Wirtschaftskommission, Mikhail Mjasnikowitsch, sagte Lukaschenko damals: „Wir haben hin und her getrödelt und Spektakel gemacht und sind uns fast an die Krawatte gegangen. Wer möchte ein solches Bündnis eingehen, wenn er selbst nicht weiß, warum?“

Was geschah mit Lukaschenko in der Zeit zwischen diesen beiden öffentlichen Bemerkungen mit absolut entgegengesetzter Bedeutung? Wenige Monate nach dem Gespräch mit Mjasnikowitsch warfen ihn Demonstranten in Minsk beinahe aus dem Präsidentenamt. Danach kam seine Erleuchtung. Die erste Folge war die rasche Stärkung des Unionsstaates und die Errichtung des ersten russischen Militärstützpunkts im belarussischen Grodno im August 2021. Allerdings im Tarnkleid eines gemeinsamen russisch-weißrussischen Kampftrainingszentrums für Luftver-teidigung und Luftwaffe.

An derselben Weggabelung steht nun der politisch stark angeschlagene Präsident Kasachstans, Kassym-Zhomart Tokajew, der vom Westen bereits für eine Zusammenarbeit mit dem Kreml abgeschrieben wurde. Er scheint aber keine wirkliche Alternative zu haben. „Heute wurde auf Beschluss des OVKS-Rates die Entsendung der kollektiven Friedenstruppen der OVKS mit 2.030 Mann und 250 Einheiten Ausrüstung nach Kasachstan abgeschlossen und sie haben mit der Erfüllung ihrer Aufgaben begonnen“, sagte er am 10. Januar auf einer Online-Sitzung des OVKS-Rates. Und so brachte er zusätzlich Verwirrung in das allgemeine Informationsbild der Operation. Denn wenn die von ihm angegebenen Zahlen der Wahrheit entsprechen, dann ist es absolut unverständlich, was für Menschen und welche Fracht von fast hundert schweren militärischen Transportflugzeugen in sein Land transportiert wurden.

(Quelle: Ischenko, S., Swobodnaja Pressa, 10.01.21, redaktionell bearbeitete Übersetzung)

 

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