DIE OHNMACHT DER ZIVILVERTEIDIGUNG (Teil 2)
Militärische Planer der polnischen Armee prognostizierten vor etwa vierzig Jahren für den rückwärtigen Raum der im Kriegsfall unter polnischem Kommando handelnden Küstenfront bei Nuklearschlägen der NATO zwei bis drei Millionen Tote im Nordteil der DDR und Polens./1/ Ähnlich hoch könnten die Verluste bei einem nuklearen Schlagabtausch zwischen der NATO und Russland im Osten Deutschlands und in Polen ausfallen. Denn wenn etwa die NATO in einem konventionell begonnenen Krieg taktische Nuklearwaffen oder andere Massenvernichtungsmittel einsetzen würde, wäre sofort mit einem massiven russischen Begegnungs- oder Antwortschlag zu rechnen. Gleiches gilt für den Fall, dass konventionelle Angriffe den Bestand der Russischen Föderation gefährden. Selbst wenn es also nicht zu einem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln durch die NATO kommt, behält sich Russland das Recht vor, auf existenzielle Bedrohungen seiner Staatlichkeit mit einem Nuklearschlag zu reagieren.
Die Bundesrepublik Deutschland ist in den aktuell forcierten strategischen Aufmarsch der NATO in Osteuropa mit Kampfverbänden der Bundeswehr integriert.
Das wird am Beispiel der Heeresplanungen deutlich. So wurde im Juni 2019 durch den Generalinspekteur der Bundeswehr ein „Konzept Landmobilität“ in Kraft gesetzt, dessen Realisierung zu einem massiven Zuwachs an Kampfkraft bei den Heeresverbänden führen wird./2/ Diese Modernisierungs- und Beschaffungsmaßnahmen werden durch Neuregelungen für Reservisten flankiert (Strategie der Reserve des Bundesministeriums der Verteidigung 2019)./3/ Das Heer soll im Jahr 2031 über drei einsatzbereite Divisionen mit acht bis neun Brigaden verfügen. Zudem müssen verstärkt Reservisten bereitstehen, um weitere Truppenteile schnell und flexibel auf Einsatzstärke bringen zu können. Auch die Erfüllung territorialer Sicherungs- und Logistikaufgaben muss personell sichergestellt werden. Daher werden zukünftig alle aus dem aktiven Dienst ausscheidenden Soldaten für sechs Jahre der Reserve zugeordnet. Jährlich verlassen ca. 15.000 Soldaten den aktiven Dienst. Somit entsteht im Laufe der Zeit ein Personalpool von 90.000 unmittelbar verfügbaren Reservisten. Mittlerweile versucht das Bundesministerium der Verteidigung, die Personalsituation in den aktiven Einheiten durch die Gewinnung junger Rekruten für den „Freiwilligen Wehrdienst/Heimatschutz“ zu verbessern. Bereits mit dem vollendeten 17. Lebensjahr können die Jugendlichen den einjährigen Dienst antreten und an der Waffe ausgebildet werden. Der durch die Corona-Pandemie verstärkte Lehrstellenmangel und die damit verbundene prekäre Lebensperspektive vieler Schulabgänger werden die Werbebemühungen der Bundeswehrplaner unterstützen und der Sold von 1.500 Euro wird für die Jugendlichen auch nicht unattraktiv sein.
Auswirkungen
In der Konsequenz dieser verschiedenen Maßnahmen vollzieht sich aktuell hinter dem Vorhang aufgeregter Corona-Meldungen eine Entwicklung, die zu einer Erhöhung der Gefährdungslage für die Zivilbevölkerung führt. Und die Konzeption Zivile Verteidigung des BMI verdeutlicht mit ungewöhnlicher Offenheit, dass ein wirksamer Schutz der Zivilisten im Falle eines Krieges nicht möglich wäre. Der im Spätsommer 2020 durchgeführte „Warntag“ zur Überprüfung von Sirenen und anderen Alarmierungssystemen wurde zwar als Maßnahme zur Verbesserung des Katastrophenschutzes gerade unter den Bedingungen der Corona-Pandemie kommuniziert, findet seine rationale Erklärung aber nur mit Blick auf im Kriegsfall befürchtete Luftwaffen- und Raketenschläge. Die bei dieser Kommandoübung zutage getretenen Defizite wird man zügig beseitigen.
Medizinische Hilfe und die Versorgung von Zivilisten mit Lebensmitteln wären allerdings in einer Kriegssituation – wenn überhaupt – nur punktuell und nur für relativ kurze Zeit möglich. Die Menschen wären in ihrer existenziellen Not weitgehend sich selbst überlassen.
Die vorhandenen Kräfte der Zivilen Verteidigung wären zudem durch die föderalen Strukturen, privatwirtschaftliche Zuständigkeiten und die zum Teil dysfunktionalen Kompetenzabgrenzungen in ihren Mobilisierungs- und Wirkungsmöglichkeiten eingeschränkt. Das hätte im Kriegsfall vor allem für die Bevölkerung verheerende Konsequenzen.
Das aktuelle Regierungshandeln im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Corona-Pandemie lässt die diesbezüglichen strukturellen Defizite eindrucksvoll zutage treten. Wenn die staatlichen Strukturen schon unter Friedensbedingungen kaum in der Lage sind, bei moderater Belastung strategisch abgestimmt zu handeln, wäre trotz aller für den Kriegsfall vorgesehenen Sondergesetze mit einem absoluten Staatsversagen beim Schutz der Zivilbevölkerung zu rechnen. Die gegenwärtige Pandemie ist ein Stresstest für das administrative System der Bundesrepublik und die Mobilmachungsfähigkeit der Gesellschaft. Und die Ergebnisse stimmen eher pessimistisch. Der erst jetzt konkret geplante Aufbau von Zentrallagern für die Bevorratung medizinischen Materials ist eine Corona-Folgemaßnahme, die zwar auch große Bedeutung für den Kriegsfall hat, jedoch die Ohnmacht der Zivilverteidigungskräfte in einer solchen Situation nicht verringern wird. Auffällig ist, dass bis auf eines, alle diese Zentrallager in Westdeutschland errichtet werden sollen. Ist etwa Ostdeutschland in den Konzepten der Planer schon als potentielles Kampf- und Zielgebiet russischer Gegenschläge abgeschrieben?
Ähnlich wie bei der medizinischen Sicherstellung ist die Situation bei der Bevorratung von Lebensmitteln. Die Hamsterkäufe in der ersten Welle der Pandemie haben deutlich gemacht, wie fragil das Versorgungssystem ist. Die Sicherung der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung bei „Großschadensereignissen und im Verteidigungsfall“ ist ein Thema, mit dem sich Ministerien und andere Behörden mittlerweile verstärkt befassen. Grundlage ist unter anderem das Ernährungssicherstellungs- und -versorgungsgesetz (ESVG) vom 4. April 2017. Die aktuellen Schwachstellen des deutschen Lebensmittelversorgungssystems offenbaren sich, wenn man etwa den Selbstversorgungsgrad und die Vorräte nach verschiedenen Produktgruppen betrachtet. Deutschland ist nach jetzigem Stand dauerhaft auf Lebensmittelimporte angewiesen und damit von einer sicheren Transportinfrastruktur und einer auch unter Kriegsbedingungen funktionsfähigen eigenen Lebensmittelindustrie abhängig. Experten der Bundesregierung rechnen zwar nicht mit dem unmittelbaren Eintreten einer sogenannten primären Ernährungskrise, etwa durch Missernten oder Kriegsereignisse, durchaus aber mit Versorgungskrisen durch Kaskadeneffekte, wenn also etwa kritische Infrastrukturen ausfallen. Und exakt damit wäre im Kriegsfall zu rechnen. Nicht nur die Energie- und Wasserversorgung oder das Gesundheitssystem und die IT-Verbindungen wären dann betroffen, sondern auch die Versorgung der Landwirtschaft mit Kraftstoffen. Die Lebensmittelindustrie wäre bei einem Ausfall der Energieversorgung, bei Lieferausfällen wegen blockierter Transportwege oder bei Zerstörungen von Verarbeitungsanlagen durch Waffeneinwirkung betroffen. Die im Lebensmittelhandel vorhandenen Reserven würden die Versorgung der Bevölkerung nur für wenige Tage sichern können. Bei einem kriegsbedingten Totalausfall der heimischen Lebensmittelindustrie und bei gleichzeitiger Blockade von Lebensmittelimporten würde die Versorgung der Bevölkerung über den Lebensmitteleinzelhandel recht schnell zusammenbrechen. Bei Obst und Gemüse wären die Bestände im Handel und in den Logistikeinrichtungen nach einer Woche aufgebraucht, bei Fleischerzeugnissen nach spätestens zwei Wochen, bei Molkereiprodukten nach ca. drei Wochen und beim Trockensortiment nach einem Monat. In diesem Fall müsste der Bund mit seinen staatlichen Reserven die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sicherstellen – und das mit hoher Wahrscheinlichkeit unter den Bedingungen des Einsatzes von Massenvernichtungsmitteln, also massiver Ausfälle bei der Transportinfrastruktur, Treibstoffmangel und nicht vorhandener oder zerstörter Verteilerstellen.
Schlussbemerkungen
Die Corona-Pandemie hat auch offengelegt, wie störanfällig das globalisierte System der Arbeitsteilung und des Handels bei einer Unterbrechung der Lieferketten ist. Bei einem Krieg der NATO gegen Russland wäre davon auszugehen, dass der Transport von Energieträgern und anderen strategischen Rohstoffen sowie von Zuliefer- und Fertigerzeugnissen in die zum Kriegsschauplatz gewordene Bundesrepublik unterbrochen würde. Also wird man präventiv auf Notbevorratungskonzepte aus der Zeit des Kalten Krieges zurückgreifen müssen, was mit hohen finanziellen Aufwendungen und logistischen Vorbereitungen verbunden ist.
Diese Fakten sind den Entscheidungsträgern bekannt und man wird die Erfahrungen mit der Pandemiebekämpfung nutzen, um das System belastbarer zu machen. Doch für den „Ernstfall“ eines Krieges wird jede denkbare Vorbereitung zum Schutz und zur Versorgung der Bevölkerung naturgemäß unzureichend sein.
Wer also eine weitere Aufrüstung der Bundeswehr und den NATO-Aufmarsch im Osten befürwortet, wer deutsches Staatsgebiet und die Infrastruktur für Truppentransporte nach Polen zur Verfügung stellt, wer als deutscher Politiker oder Militär Russland „von einer Position der Stärke“ aus einschüchtern will, handelt politisch verantwortungslos. Ein Blick in die russische Militärdoktrin und die Kenntnisnahme der russischen Nuklearstrategie könnten hier hilfreich sein. Und wer gleichzeitig die möglichen Begleiterscheinungen und Folgen eines Waffengangs im Osten verschweigt, hat entweder keine Vorstellung von der Dynamik eines möglichen Krieges gegen Russland oder er belügt bewusst die Bürger dieses Landes.
Dieser riskante Kurs erfreut sich derzeit bei ausgewiesenen Transatlantikern aus CDU/CSU und SPD besonderer Akzeptanz. Eine zunehmende Anzahl der Grünen-Politiker ist nicht nur auf diesen Kurs eingeschwenkt, sondern bemüht sich, durch noch massivere antirussische Ausfälle ihre „Regierungsfähigkeit“ unter Beweis zu stellen. Die unehrliche Debatte um das Nord Stream 2-Projekt, die offene Unterstützung der westlich finanzierten und inspirierten Opposition in Russland, die inflationäre Androhung und Verhängung von Sanktionen und die insbesondere vom derzeitigen deutschen Außenminister gepflegte Krawall-Rhetorik belasten die Beziehungen zu Russland. Auch die Bestrebungen der neuen US-Administration, Georgien und die Ukraine möglichst bald in die NATO aufzunehmen, die weitere Verstärkung der amerikanischen Truppen in Europa und der Umfang der Manövertätigkeit der NATO entlang der russischen Westgrenze (von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer) verstärken die militärischen Spannungen in Europa.
Im Schatten der aufgeheizten Corona-Berichterstattung werden administrative, juristische und militärpolitische Fakten geschaffen, die für unser Land und die Menschen nicht nur existenzielle Zukunftsrisiken heraufbeschwören, sondern in eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes führen können.
Quellen:
/1/ Markus, U., Rudolph, R.: Schlachtfeld Deutschland. Berlin 2011, S. 159
/2/ Klos, D.: Mobilität der Landstreitkräfte. In: Europäische Sicherheit & Technik 9/2019. S. 82-87
/3/ Klos, D.: Die „Strategie der Reserve auf der Zielgeraden“ In: Europäische Sicherheit & Technik 9/2019. S. 38-40
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