Der Traum vom syrischen Kurdenstaat

Der Traum vom syrischen Kurdenstaat

Die Region, in der die Kurden leben, ist heute von besonderer strategischer Bedeutung. Die Ölvorkommen und der Wasserreichtum aus den Bergen wecken Begehrlichkeiten. Weder der Irak noch die Türkei möchten darauf verzichten. Denn zwei Drittel der irakischen Erdölfelder liegen im Kurdengebiet bei den Städten Kirkuk und Mossul. Im türkischen Ostanatolien um Batman wird ebenfalls Öl gefördert.

Wirklich zuverlässige Angaben über die Zahl der heute lebenden Kurden gibt es nicht. Schätzungen belaufen sich auf 24 bis 27 Millionen, wovon die Hälfte in der Türkei leben. Im Iran sollen rund 5,7 Millionen Kurden ansässig sein, im Irak vier Millionen und in Syrien ca. 2,5 Million. Die Zahl der Kurden in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wird auf rund 400.000 geschätzt. Im Irak und in der Türkei stellen die Kurden mit 15 bis 20 Prozent Bevölkerungsanteil jeweils die größte ethnische Minderheit. Sieben Prozent der iranischen Staatsbürger sind Kurden.

Die Kurden Syriens sind die größte nichtarabische Minderheit im Land und machen zwischen 2,5 und 5 Prozent der Bevölkerung aus. Fast alle syrischen Kurden bekennen sich zum sunnitischen Islam. Einige gehören aber auch anderen Religi-onsgemeinschaften an. In der Zeit des französischen Protektorats (1920 –1946), als bei den Kurden in Syrien noch die Hoffnung auf eine Autonomie bestand, betrieben sie in drei kurdisch geprägten Siedlungsgebieten einen eigenen Rundfunksender und eigene Zeitungen. Viele wichtige kurdische Politiker aus der Türkei flohen nach Syrien, von wo aus sie ihre Arbeit gegen die türkische Regierung fortsetzten. Nachdem Syrien ein souveräner Staat geworden war, wurden jedoch die Rechte der Kurden in Syrien immer mehr beschnitten. Kurden wurden schrittweise aus dem öf-fentlichen Dienst entlassen, als ethnische Gruppe in Syrien wurden sie nicht mehr anerkannt, Umsiedlungen begannen und die kurdischen Ortsnamen wurden arabisiert.

1962 führte die syrische Regierung in den Kurdengebieten eine Volkszählung durch. Danach wurden 120.000 Kurden als Flüchtlinge eingestuft und ihnen die syrische Staatsbürgerschaft aberkannt. Gleichzeitig gewährte man jedoch nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei vielen PKK-Politikern und -Kämpfern in Syrien Zuflucht. In der von der syrischen Armee in Libanon besetzten Bekaa-Ebene konnte die PKK ihre Kämpfer ausbilden und bewaffnen. Unter dem Präsidenten Baschar al-Assad nutzte die Regierung die Ausschreitungen nach einem Fußballspiel für ein Verbot der kurdischen Parteien in Syrien. Erst im Jahr 2011 wurde von der syrischen Regierung die Wiedereinbürgerung staatenloser Kurden, deren Zahl in der Zwischenzeit auf ca. 300.000 angestiegen war, per Dekret möglich gemacht. Auch kurdische Parteien wurden wieder zugelassen.

Im Verlaufe des Bürgerkrieges in Syrien musste die syrische Regierung gegen Ende des Jahres 2013 die Kontrolle über ihre nördlichen Regionen an der Grenze zur Türkei aufgeben. Lokale kurdische Kräfte übernahmen daraufhin vielerorts die Macht in dem Gebiet, das sie Rojava nennen. Die Region weist eine große kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt auf: Kurden, Araber, Turkmenen, Armenier und Tschetschenen lebten dort früher friedlich zusammen. Moslems, Christen, Assyrer, Chaldäer und Jesiden praktizierten ihren Glauben.

Nach der Machtübernahme durch die Kurden im syrischen Kanton Kobane wurden auf Betreiben des Kurdischen Volksrates (MGRK) die Bediensteten des syrischen Staates weitgehend vertrieben. Während der Rest Syriens zunehmend im Bürgerkrieg versank, bauten die Kurden ihre Unabhängigkeit sowohl von der syrischen Regierung als auch von der durch den Westen, die Türkei und die Golfstaaten protegierten Opposition aus.

Am 12. November 2013 beschlossen die kurdischen Parteien Partiya Yekitia Demokrat (PYD) und die christliche Suryoye Einheitspartei mit einer Reihe weiterer Kleinparteien, im Norden Syriens eine Übergangsverwaltung zu schaffen. Der ent-standene Missstand in der Verwaltung und Versorgung der Bevölkerung sollte behoben werden. In den drei kurdischen Kantonen, in Cizîrê am 21. Januar 2014, in Kobane am 27. Januar und einen Tag später in Efrin, wurden selbstständige Verwaltungen eingerichtet. Die Verwaltung bestand jeweils aus einem kurdischen, einem arabischen und einem christlich-assyrischen Minister pro Ressort. Die politische Absicht bestand darin, ein demokratisches System eines selbstverwalteten demokratischen Föderalismus aufzubauen. In der Verwaltung wurde eine Frauenquote von 40 Prozent angestrebt – ein für die arabische Welt wohl einmaliges Ziel.

Beanspruchte Gebiete

Das von den Kurden beanspruchte Gebiet, die Rojava

Die politische Führung der syrischen Kurden hatte das Ziel, alle drei Kantone unter einer Verwaltung zu vereinen. In der Vereinbarung zum Aufbau der neuen Strukturen wurden die Verwaltungen der autonomen Kantone zur Einhaltung der Menschenrechte, zur Sicherung der Gleichberechtigung der Frauen und zur Wahrung der Religionsfreiheit verpflichtet. Die Todesstrafe wurde abgeschafft. Insbesondere wurde die Abgrenzung zur Regierung Syriens und zum IS festgeschrieben. Die Gesetze Syriens galten nur, soweit sie den Grundsätzen des neuen Gesellschaftsvertrages nicht widersprachen. Ein neues Gesundheitssystem und ein neues Bildungssystem sollten geschaffen werden. Gesundheitszentren waren im Entstehen und in den Bildungseinrichtungen wurde neben Arabisch auch Kurdisch und Aramäisch gelehrt. Die erste kurdische Universität entstand in der Stadt Qamisli. Auch wurde ein demokratisches Rechtssystem etabliert.

In Rojava wurde das Experiment einer direkten kommunalen Demokratie erprobt. Die immer noch dominante Clanstruktur sollte aufgebrochen werden. Die Kultur der Gewalt soll durch basisdemokratische Strukturen unter Einbeziehung aller ethnischen und religiösen Minderheiten ersetzt werden.

Quellen:

Leukefeld, K.: Geopolitische Doppelmoral. Junge Welt, 20.11.2020

Leukefeld, K.: Zerstört und geplündert. Junge Welt, 20.11.2020

Rudolph, R., Markus, U.: Warum Syrien. Berlin 2016

 

Vertiefende Artikel für den Interessierten...

Teil II - Wechselvolle Geschichte

Teil IV - Zweckbündnisse

 

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